A-Z Was hat Juli Zeh mit Lärmschutz zu tun, die Quilombo mit der Kommune 1 und Engels mit Thomas Vinterberg? Sie alle träumen von Kommunen. Unser Lexikon
Altschulden Sie lasteten nach 1990 schwer auf den ehemaligen Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) der DDR. Es waren Gelder, die von der DDR-Staatsbank zur Finanzierung des Wohnungsbaus ausgereicht worden waren, aber finanztechnisch nicht als Kredite galten. Der Einigungsvertrag stornierte sie nicht, und deshalb mussten sie an die Deutsche Kreditbank zurückgezahlt werden. Nach 1993 wurde ein Teil gestundet, ganz erlassen, manchmal auch die Zinsen für die Rückzahlung gesenkt. Dafür setzte sich unter anderen die Linke in Mecklenburg-Vorpommern ein. Ein schwieriger Neubeginn für eine Institution, die vor 1990 nicht in gutem Ruf stand. Schlechter Service, Warten auf Handwerker-Termine brachten die KWV oft in die Kritik. Clevere Mieter schritten zu Selbsthilfe und krea
evere Mieter schritten zu Selbsthilfe und kreativer Beschaffung. So konnte man etwa in Annoncen lesen: „Tausche Autoreifen gegen Fliesen“. Magda GeislerCCommune de Paris Nach der Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Preußen bildete sich 1871 in Paris ein revolutionärer Stadtrat, dessen erste Handlung in der Ausschreibung von Wahlen bestand. Truppen der französischen Regierung in Versailles erstickten die Erhebung nach zwei Monaten, Karl Marx verewigte sie aber in seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich. Die Commune, schrieb er, sei „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ Ihre Regierung, aus Wahlen hervorgegangen, sei eine der Arbeiterklasse. Friedrich Engels ergänzte später, wer wissen wolle, was die „Diktatur des Proletariats“ sei, solle auf die Commune schauen. Marx hob hervor, dass nach dem Verfassungsentwurf dieser Regierung ganz Frankreich eine Föderation von Kommunen werden und auch die „wenigen, aber wichtigen Funktionen“ einer Zentralregierung kommunalen Beamten anvertraut werden sollten. „Kommunismus“ kommt von „kommunal“. Michael JägerIIntegration Von Melito di Porto Salvo im süditalienischen Kalabrien aus sieht man eine hoch in den Himmel ragende Hand, einen Berg namens „Pentedattilo“ (fünf Finger). Interpretieren kann man ihn als Warnung – bis hierher und nicht weiter – oder als Hilfeschrei eines Ertrinkenden. Von hier stammt Mimmo Lucano, 64, ehemaliger Bürgermeister der Gemeinde Riace, 80 Kilometer weiter nordöstlich gelegen. Berühmt wurde Riace durch ein Integrationsprojekt für Flüchtlinge. Im Ort herrschte Leerstand, die Infrastruktur verfiel. Lucano versuchte, wie ein Ertrinkender, sie als öffentliches Gut am Leben zu erhalten. Doch das fand nicht nur Beifall: In dem Maße, wie sich die Scheinwerfer auf das „Modell Riace“ richteten, wuchs auch der Widerstand regionaler Eliten und Spekulanten, die schließlich Italiens damaligen Innenminister und die Justiz aktivierten. Mancher sah die Ndrangheta involviert. Im September 2021 wurde Lucano in erster Instanz zu 13 Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt, wegen illegal verteilter Aufenthaltsgenehmigungen und weil er den Müll ohne Ausschreibung einsammeln ließ. Wenngleich das Urteil nicht halten dürfte – wie der Pentedattilo in Lucanos Jugend sagt es wohl: Bis hierher und nicht weiter. Ulrich van LoyenKKommunalkas So wurden in der Sowjetunion und werden heute noch in Russland Wohnungen genannt, die sich mehrere Mietparteien, Einzelpersonen oder ganze Familien teilen. In St. Petersburg leben gegenwärtig – infolge anhaltender Wohnungsknappheit und hoher Mieten – eine halbe Million Menschen in unfreiwilliger Gemeinschaft, da sie sich ihre Mitmieter nicht immer aussuchen können (➝ Seitensprung). Küche und sanitäre Anlagen müssen geteilt werden. Die Geschichte dieser Kommunalkas ist hochinteressant. In Zeiten der Revolution hätten die Bolschewiki gleich mehrere Proletarierfamilien in den großen bürgerlichen Wohnungen der Zarenzeit untergebracht, berichten Historiker.Sie sind, auch heute noch, ein Spiegel der Entwicklung in der (Post-)Sowjetunion. Auch Wladimir Putin ist in einer Kommunalka in St. Petersburg aufgewachsen. MGLLärm „Wir sind doch keine Höhlenmenschen, wir nutzen die Technologie“, sagt Spongebob Schwammkopf in der populären Zeichentrickserie. Aber auch moderne Menschen haben ihre „Höhlen“. Darin sorgen sie sich um ihr Wohlbefinden, denn das scheint ständig bedroht. Nachbarn tun sich zusammen, damit ihre Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt wird. Dabei hat jeder mindestens ein Auto im Carport stehen. Und welche Aufregung um die Flugrouten vom neuen BER! Selber fliegen ja. Den Lärm sollen andere ertragen. Irmtraud GutschkeNNummer 1 Gemessen am historischen Vorbild, der Pariser ➝ Commune, war sie ein Treppenwitz der Geschichte. Denn die Vorstellungen der Kommune Nummer 1 vom neuen Staat waren ebenso diffus wie die vom befreienden Zusammenleben als modellgebende Keimzelle. Die selbstreinigenden Beichtrituale der Kommunarden aus der Berliner Niedstraße sind legendär, und was innere Zerfleischung ruinierte, sollte die Aktion nach außen heilen. Das „Pudding-Attentat“ endete mit einer Staatsblamage. Immerhin hat die eventfreudige Truppe früh die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie verstanden. Und sie lotete die Grenzen aus zwischen Kunst und politischer Kriminalität, die erst später von einer „Armee“ überschritten wurden. Ulrike BaureithelQQuilombo Brasilien gehört zu den Ländern, in denen die Sklaverei besonders spät abgeschafft wurde – erst 1888. Dass die aus Afrika verschleppten Menschen ihre jahrhundertelange Versklavung keineswegs einfach hinnahmen, davon zeugen die Quilombos: Siedlungen entflohener Sklaven, die sich zusammentaten, Land bewirtschafteten und sich verteidigten (➝ Zweckgemeinschaft). Viele entstanden schon im 16. und 17. Jahrhundert. Im berühmtesten, dem Quilombo dos Palmares, lebten bis zu 30.000 Menschen. Die Nachfahren der Quilombo-Bewohner bezeichnen sich noch heute als „Quilombolas“, und seit 2007 erkennt die Regierung sie als traditionelle Gemeinde an, was ihnen Landrechte gewährt.Das Wort selbst stammt aus einer Bantusprache und bedeutet schlicht „Wohnsiedlung“. Auch im benachbarten Argentinien hat es sich verbreitet. Dort bezeichnet man großes Chaos gern mit dem Ausruf „¡Qué quilombo!“, und wem das etwas rassistisch vorkommt, der dürfte nicht unrecht haben. Leander F. BaduraSSeitensprung Thomas Vinterbergs Film Die Kommune erzählt die Geschichte von Anna und Erik, die in den 1970er Jahren ein großes, geerbtes Haus mit Freunden und Bekannten in eine Kommune verwandeln. Der dänische Regisseur verbrachte seine ersten 19 Lebensjahre selbst in einer Kommune. Ein Traum vom Kollektiv ohne Privateigentum oder Besitzansprüche an den Partner (➝ Nummer 1). Aber genau das wird für die WG im Film zur Belastungsprobe. Protagonistin Anna – gespielt von Trine Dyrholm, die auf der Berlinale 2016 den Silbernen Bären erhielt – leidet. Denn Erik betrügt sie mit einer 20 Jahre jüngeren Frau, die ins gemeinsame Haus einzieht. Ein Versuch, sich von tradierten Rollen- und Familienbildern sowie gesellschaftlichen Normen zu lösen. An den menschlichen Schwächen, die man in der Kommune überwinden wollte, scheitert am Ende die Ehe. Vinterberg selbst hat nach 17 Jahren Ehe und zwei Kindern seine Frau verlassen, für eine junge Schauspielerin: ebenjene Helene, die im Film die junge Geliebte spielt. Elke AllensteinTTicket 3,666-Euro-Ticket: Während sich weiterhin Bewegungen dafür starkmachen, das 9-Euro-Ticket bundesweit in irgendeiner Form auf Dauer einzuführen, gibt es in Templin bereits sehr günstigen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Und zwar schon seit 25 Jahren. Im Moment kostet in der brandenburgischen Stadt das Jahresticket 44 Euro – und kommt als übertragbare Plastikkarte. 1997 wurde das System zunächst sogar gratis eingeführt. Damals nutzten in der uckermärkischen Stadt mit 16.000 Einwohnern jährlich nur 41.000 Fahrgäste die Busse. Der Stadtrat von Templin stellte sich die Frage, ob man den ÖPNV ganz einstellen oder ein neues Konzept ausprobieren sollte. Man setzte auf die Gratisbeförderung, und binnen Jahresfrist stieg die Passagierzahl auf 350.000. Im Jahr 2003 musste wieder ein Tarif eingeführt werden, weil die Kosten dazu zwangen. Man entschied aber, den Kurs der Mobilität für alle beizubehalten und die Fahrpreise niedrig zu halten. Das kam nicht nur der sozialen Bewegungsfreiheit zugute, sondern auch dem gesamten Stadtleben. In Templin hat sich die Passagierzahl pro Jahr inzwischen auf durchschnittlich 200.000 eingependelt. Dadurch nahm auch der Verkehr durch Kraftfahrzeuge ab, was die Straßen beruhigte, sicherer machte und die Lärmbelästigung reduzierte. Zudem konnte die mit dem ÖPNV verbundene Bürokratie reduziert werden – der Verkehrsverbund stellt monatlich nur eine Rechnung an die Stadtverwaltung. Geht. Tobias PrüwerWWindenergie Sie ist sauber, erneuerbar und effektiv und hat, auch wenn die Anlagen erst mal teuer sind, heute schon einen Anteil von 27 Prozent an der deutschen Stromerzeugung. So „grün“ wie nur irgendwas – kann jemand etwas dagegenhaben? Kaum, wenn die Windräder irgendwo anders stehen. Aber wenn wir sie vor Augen haben, verschandeln sie einem die Landschaft. Und man denkt daran, dass sie eine Gefahr für Vögel und Fledermäuse sind. Wer in der Nähe wohnt, spürt vielleicht das Geräusch der Rotorblätter. Macht Infraschall gar krank? Was am meisten kränkt: dass jemand dir so ein Ding vor die Nase setzt und daran verdient. Letztlich ums Geld dreht sich der Streit in Juli Zehs Roman „Unterleuten“ (2016). In einem brandenburgischen Dorf ist ein Windpark geplant. Die Firma Vento Direct will Land dafür kaufen. Zwei Areale kommen in Frage. Wer wird das Geschäft machen, wer leer ausgehen und wer hat von vornherein nichts davon? Alte Feindschaften brechen auf, mit dem „Frieden“ im Dorf (➝ Lärm) ist’s vorbei. IGZZweckgemeinschaft Die mittelalterliche Stadtkommune war eine Zweckgemeinschaft. Als politische Organisationsform der Stadtbürger ermöglichte sie das gemeinsame Handeln gegenüber dem Stadtherrn. Das waren in der Regel Fürsten, gegen die die Stadtbewohner eine zunehmende Unabhängigkeit behaupten wollten. Sie schlossen sich zusammen zu dem Zweck, mit einer Stimme sprechen und ihre Interessen vertreten zu können (➝ Quilombo). Zunächst von den Adligen noch als Verschwörer verfolgt, gelang es diesem städtischen Großbürgertum, sich durchzusetzen. Stadträte gingen daraus hervor, eine Rechtbarkeits- und Verwaltungsstruktur, die den Kern für die modernen Kommunen legten. TP
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.