Von Montesquieu über Umberto Eco bis Stèphane Hessel: Überraschende Bestseller
A-Z Für Verlage ist kaum kalkulierbar, welches Buch die Leute umhauen wird. Sonst hätten sie wohl nie „Der Name der Rose“ oder die Geschichte von John Kaltenbrunner abgelehnt. Wer hätte gedacht, dass Japaner Marxisten verschlingen? Das Lexikon
Ist das die Bibel oder doch der aktuelle Bestseller?
Foto: Bernd Hartung/Agentur Focus
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Ares III Auf der fiktiven Mars-Mission Ares III geht der Astronaut Mark Whatney kurz vorm Rückflug zur Erde im Sandsturm verloren. Er überlebt anderthalb Jahre auf dem roten Planeten, indem er in der Raumstation Kartoffeln anbaut und schließlich spektakulär gerettet wird. Der Autor und Science-Fiction-Nerd Andy Weir, der sich ausgiebig mit Lebensbedingungen auf dem Mars, der Raumfahrt und Botanik beschäftigt hatte und seinen Roman Der Marsianer möglichst realistisch erzählen wollte, veröffentlichte diese Robinsonade erst auf seiner Website, wo er schon andere Geschichten mit weit weniger Erfolg publiziert hatte. Auf Anregung begeisterter Leser brachte er den Text schließlich bei Amazon im Kindle-Selbstverlag heraus. Der Titel war im Lauf der Ze
indle-Selbstverlag heraus. Der Titel war im Lauf der Zeit so erfolgreich, dass er später nicht nur als gedrucktes Buch erschien, das prompt auf der New York Times-Bestsellerliste landete, sondern Ridley Scott die Geschichte auch noch als Blockbuster verfilmte (➝ Jakobsweg). Florian SchmidBBibel Wer (außer vielleicht IHM, Gott selbst) hätte seinerzeit wirklich geglaubt, dass das Joint Venture eines kleinen Wüstenvolks und seiner seltsamen neuen Religion mit einem von zahllosen Wanderpredigern, der ein paar hundert Jahre später dieser seltsamen Religion die Krone aufsetzen wollte und dafür vom Wüstenvolk mit Hilfe des Römischen Reichs ans Kreuz genagelt wurde – wer hätte gedacht, dass aus dieser (un)heiligen Allianz einst das meistverbreitete Buch aller Zeiten hervorgehen würde? Guinness World Records zählte 1995 fünf Milliarden Exemplare der Bibel, damals etwa so viele wie Menschen auf dem Planeten. Weit abgeschlagen dahinter, mit nur 1,5 Milliarden, die Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung, die sogenannte „Mao-Bibel“ – die wurde seit 1965 allerdings schon mit klaren Bestseller-Absichten auf die Weltmärkte geflutet (➝ Raubdrucke). Tom WohlfarthCCarlsen Als Jungbuchhändlerin in den 1970er-Jahren hatte man Ambitionen. Auf dem Frankfurter Buchhändler-Campus in Seckbach zum Beispiel, als die ersten nicht mehr „Berufsschulpflichtigen“ mal einen Direktor in die Wüste schickten. Das Buch darüber ist auch noch nicht geschrieben. In meiner Klitsche in der Provinz jedenfalls betreute ich das Kinder- und Jugendbuch und unterstützte Verlage wie Signal oder Anrich im Odenwald, die es heute nicht mehr gibt und dennoch Legende geworden sind. An den damaligen Carlsen-Vertreter, der regelmäßig bei uns auflief, erinnere ich mich allerdings noch genau: Er hatte „Tim und Struppi“ im Gepäck. Richtig lustige Geschichten, die noch besser gingen als „Asterix“, die die französischen Soldaten in unserem Grenzgebiet nachfragten. Carlsen kannte ich aus meiner Kindheit von den 50-Pfennig-billigen Pixi-Büchern: „Seht mal her, ich bin die Suse, mit der rotgetupften Bluse …“ So wurde meine Frauengeneration sozialisiert. Schund, dachten wir später. Doch das Geschäftsmodell bei Carlsen ging auf: Mit Harry Potter von Joanne K. Rowling war er von den kleinen Verlagen nicht mehr einzuholen. Ulrike BaureithelEEva Strittmatter Bevor sie zur meistgelesenen deutschen Lyrikerin der Gegenwart wurde, klopfte sie bei mehreren Verlagen vergeblich an. Aufbau öffnete ihr die Tür, aber man ließ sie warten. 1971 hatte sie eine Mappe mit 500 Gedichten eingereicht, 1973 erschien eine kleine Auswahl in 2.000 Exemplaren – gering für die DDR. Ich mach ein Lied aus Stille, zur Leipziger Buchmesse vorgestellt, verkaufte sich so gut, dass sofort 3.000 Bände nachgedruckt wurden. Seitdem wuchs ihre Popularität von Buch zu Buch. Weil hier eine Frau unverhohlen „Ich“ sagte und sich inmitten märkischer Natur zu ihren Gefühlen bekannte: Melancholie, Sehnsucht, erotische Leidenschaft (➝ Persische Briefe). Irmtraud GutschkeJJakobsweg Dass Millionen davon hin und weg sein würden, dass Hape Kerkeling dann mal weg war, das war nicht zu ahnen. Weder von ihm noch von den einschlägigen Experten. Das Buch über seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg erschien im Mai 2006. Es dauerte ein halbes Jahr, bis es in die Gänge kam. Aber dann hielt es konkurrenzlos den Platz 1 übers Jahr 2007, in dem allein 120.000 ebenfalls nach Santiago de Compostela pilgern wollten. Und lief allein über drei Millionen Mal, bis 2008 Richard David Prechts multiple Ichs es ablösten. Doch auch dann wanderte es wie von selbst weiter: Tourismus, Sinnsuche, Strapazen, Menschenfreundlichkeit. Erhard SchützÖÖkosozialist Manchmal gedeiht radikale Theorie gerade da am besten, wo man es am wenigsten erwartet. Das stockkonservative Japan zum Beispiel ist nicht gerade bekannt dafür, die Speerspitze der Weltrevolution zu sein. Und ausgerechnet dort hat ein Marxist nicht nur einen Best-, sondern geradezu einen Megaseller erzielt: der Philosoph Kohei Saito. Seitdem sein Buch Das ‚Kapital‘ im Anthropozän sich (bis Mitte 2022) über eine halbe Million Mal verkauft hat, gewinnt er Buchpreise, guckt von Werbewänden in der U-Bahn und fordert in Talkshows die Abschaffung des Kapitalismus. Der sei nämlich das eigentliche Hindernis bei der Bewältigung des Klimawandels, weshalb innerkapitalistische Reformansätze zum Scheitern verurteilt sind. Von diesem Erfolg berichtet jedenfalls sein deutscher Übersetzer Gregor Wakounig auf Twitter, dessen Fassung Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus im August bei dtv erscheint. Leander F. BaduraPPersische Briefe 1721 veröffentlichte Montesquieu in Amsterdam anonym einen Schlüsselroman der Aufklärung. Seine Lettres Persanes wurden noch im Erscheinungsjahr mehrfach nachgedruckt, die Anzahl der Ausgaben stieg bis zum Tod des Autors auf über 30 an. Es gab früh Übersetzungen ins Deutsche, Englische und Russische. Der Text schoss dermaßen durch die Decke, dass Buchhändler jeden Dahergelaufenen am Ärmel zupften: „Mein Herr, schreiben Sie mir persische Briefe.“ So schreibt es Adolf Strodtmann in seinen Vorbemerkungen zu dem Briefroman. Beschrieben werden zwei Perser, Usbek und Rica, die ihre Heimat Isfahan verlassen, nach Paris aufbrechen und sich dort über die Freizügigkeit der französischen Damen wundern. Sie schicken und erhalten Briefe von ihren einsamen Ehefrauen, die im Harem zurückgeblieben sind. An eine von ihnen wanzt sich der Obereunuch ran, während die Meister im Ausland sind. Sex sells! Das galt wohl schon im 18. Jahrhundert. Dorian BaganzRRaubdrucke Kaum erschienen, wurde die Geschichte einer unglücklichen Liebe zum Bestseller. Doch nicht nur Verfasser und Verleger profitierten von dem Verkaufserfolg. Bücher illegal zu vervielfältigen war damals gängige Praxis. Und schon bald gab es Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther (1774) als Raubdruck zu kaufen. Um 1968 wurden linke Klassiker (➝ Bibel) nachgedruckt: geistige Munition für den Kampf gegen das Establishment. Viel Geld war damit nicht zu machen. Anders als in den 80er-Jahren, als billig produzierte Ausgaben aktueller Bestseller in Szenekneipen angeboten wurden. Und mancher denkt wehmütig an die Zeiten zurück, als sich mit dem gedruckten Wort Nischenexistenzen finanzieren ließen. Joachim FeldmannÜÜberleben Der Pulitzer-Preis für einen Comic-Autor? Es war 1992 eine Überraschung. Art Spiegelman erhielt ihn fürMaus – Geschichte eines Überlebenden – als erster Comic-Autor überhaupt. Darin berichtet er von seinem Vater, der Auschwitz entkam, und fügte seine eigenen historischen Reflexionen ein (➝ Widerstand). Die Geschichte erschien zunächst als Serie in einem Underground-Magazin, bevor es Spiegelman als Buch herausbrachte. Das wurde von der Kritik hoch gelobt, erreichte einen großen Leserkreis. In Deutschland wurde es 1990 wegen NS-Verherrlichung beschlagnahmt, bis man den Irrtum bemerkte. Im vergangenen Jahr untersagte eine Schulbehörde im US-Staat Tennessee die Verwendung des Werks im Unterricht. Darauf erlebte es dort einen Absatzboom. Tobias PrüwerVVergiftung Eher nicht, antwortete der frühere Chef-Lektor des Suhrkamp-Verlags, Raimund Fellinger, auf die Frage, ob jemand das angebotene Typoskript von Umberto Ecos Der Name der Rose gelesen habe. Der Semiotik-Professor hatte bei Suhrkamp zwei nur mäßig gehende Wissenschaftsbücher veröffentlicht und die Skepsis war groß, als er mit seiner Honorarforderung von 15.000 Mark vorsprach. Verleger Unseld bot 12.000 Mark und ließ es dabei bewenden. Eco auch und ging zum Hanser-Verlag. Der Rest ist Geschichte: Der Roman um mysteriöse Mordfälle in einer Benedektinerabtei hatte rasenden Absatz und wurde mit Sean Connery verfilmt. Ob er bei Suhrkamp auch so gezündet hätte?Jan C. BehmannWWiderstand Es schwappte damals wie aus dem Nichts nach Deutschland, jenes schmale Manifest, verfasst von einem älteren Monsieur, der in Diplomatenkreisen ein Großer war, aber wer kannte schon Stèphane Hessel? Empört Euch! hieß die Streitschrift, die 2010 in Frankreich in einer Auflage von 900.000 rasch vergriffen war. Ihr Autor, Stèphane Hessel, 93 Jahre alt, hatte das KZ Buchenwald ➝ überlebt und an der UN-Charta für Menschenrechte mitgeschrieben. Er sorgte sich nun um die Folgen der Finanzkrise, kritisierte den Abbau des Sozialstaats und all die Vorurteile gegen Einwanderer in der Grande Nation. Als wir uns in Berlin zum Gespräch trafen, wünschte mir der charmante Herr Hessel, der früher in den Widerstand gegen die Nazis gegangen war, auch ich könnte mich gegen etwas auflehnen: „Sonst werden Sie nicht zur Frau!“ In Deutschland stand zu der Zeit übrigens ein Buch an der Spitze, in dem sich jemand über „kleine Kopftuchmädchen“ und den täglichen „Ruf der Muezzine“ empörte. Maxi LeinkaufZZiegenjunge Als Ziegenjunge wird die skurrile und kämpferische Coming-of Age-Figur in Tristan Egolfs Roman Monument für John Kaltenbrunner bezeichnet. Die Geschichte des auf einer Schaf-Farm aufwachsenden John Kaltenbrunner, einer der punkigsten Charaktere der amerikanischen Gegenwartsliteratur, der einen Müllarbeiterstreik organisiert, lehnten gut 50 Verlage ab. Erst als der jugendliche Autor das College schmiss, mit Gitarre durch Europa tourte und in Paris auf der Straße musizierend die Tochter des späteren Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano kennenlernte und der die Qualität des Buches erkannte, brachte der französische Verlag Gallimard das 500-seitige Opus voller Schlägereien, Streiks und Riots in einer Kleinstadt im Mittleren Westen heraus. Es hatte postwendend weltweit Erfolg und machte seinen Autor mit 28 Jahren berühmt. Florian Schmid
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