Von Raubtieren eingekreist

Brasilien Dilma Rousseff will auch nach ihrer Suspendierung nicht aufgeben, doch kämpft sie wohl auf verlorenem Posten
Ausgabe 20/2016
Fast alle demokratisch gewählten Staatschefs standen unter Korruptionsverdacht
Fast alle demokratisch gewählten Staatschefs standen unter Korruptionsverdacht

Montage: der Freitag; Material: getty (2), imago (1), d. meyrl/iStock

Gut möglich, dass die Geschichte gnädiger mit Dilma Rousseff umgeht als ihre politischen Zeitgenossen, von denen eine Mehrheit Brasiliens erste Frau an der Spitze des Staates regelrecht aus dem Amt jagen will, Hintergangen von ihrem Vizepräsidenten Michel Temer, verurteilt von einem selbst der Korruption verfallenen Kongress und verhöhnt für die Misshandlungen, die sie als Gefangene während der Militärdiktatur in den 60er Jahren erlitt, hat die Vorsitzende der Arbeiterpartei (PT) wie erwartet auch im Senat den tödlichen Stoß erhalten. Spätestens in 180 Tagen wird klar sein, ob die Suspendierung zur endgültigen Demission führt. Bis dahin nimmt Temer Rousseffs Platz ein. Er wurde 2014 als Teil ihres Gefolges gewählt und hat zuletzt heftig gegen sie intrigiert.

Die Präsidentin – einst von der Militärpolizei als marxistische Guerillera verhaftet und gefoltert – ist über den Verrat und die frauenfeindlichen Anwürfe gegen sie zu Recht empört. Sie schwört, bis zum bitteren Ende kämpfen zu wollen. Doch erinnert dieser Kampf zu sehr an den eines verletzten Tieres, das von Raubtieren eingekreist ist, die anrücken, um es zu töten.

Selten makellos

Nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 standen fast alle Staatschefs unter Korruptionsverdacht

José Sarney

1985 – 1990 Erster ziviler Staatschef nach 20 Jahren Obristenherrschaft. Sarney versuchte, Staatsschulden und Inflation zu drosseln. Nach seiner Amtszeit wurde er Senatspräsident, war aber durch Korruptionsfälle in seiner Familie belastet.

Collor de Mello

1990 – 1992 Bald nach seiner Amtsübernahme wurden massive Korruptionsvorwürfe laut und führten im September 1992 zu einem Amtsenthebungsverfahren, das beide Kammern des Kongresses einläuteten. Daraufhin trat de Mello zurück.

Itamar Franco

1992 – 1994 Einer der wenigen Spitzenpolitiker, die offiziell nie in Geldaffären gerieten. Franco wurde als Vizepräsident de Mellos nach dessen Demission neuer Präsident. Um Hunger einzudämmen, gab er staatliche Lebensmitteldepots frei.

Henrique Cardoso

1995 – 2003 Als Finanzminister deckelte er mit dem „Plano Real“ die Inflation. Dieser Erfolg verschaffte ihm zwei Amtszeiten als Präsident. Immer wieder versprach er, den Sumpf der Korruption austrocknen zu wollen – und beließ es dabei.

Lula da Silva

2003 – 2011 Als Hoffnungsträger der Arbeiterpartei sorgte er für Sozialprogramme und einen Wirtschaftsboom. Überschattet war die Präsidentschaft vom Mensalão-Skandal, in den 37 Politiker verwickelt waren. Mutmaßlich wusste Lula davon.

Dilma Rousseff

ab 2011 Sie begann ihre erste Amtszeit als Präsidentin mit einem erklärten Anti-Korruptionskurs. Die Opposition setzte sie ab 2014 zusehends unter Druck. Der Vorwurf: Sie habe die Staatsfinanzen manipuliert und Geldwäsche gedeckt.

Für Außenstehende hat Rousseff Sympathien und Solidarität verdient. Sie ist integre als die meisten ihrer Ankläger und war im Amt stets darum bemüht, die Lebensverhältnisse ihrer Landsleute zu verbessern, besonders die der Erniedrigten und Vergessenen an der Peripherie der Gesellschaft. Andererseits herrscht bei denen, die mit der Untersuchung der vielen Korruptionsvorwürfe gegen Abgeordnete und Senatoren beschäftigt sind, jetzt auch eine gewisse Erleichterung. Sie sorgen sich, ob und wie Brasilien jemals wieder dem Sog des Niedergangs entkommt. Wann ein seit Monaten lähmender politischer Stillstand endlich vorbei sein wird. „Im Nachhinein wird man das Amtsenthebungsverfahren als einen unrühmlichen Augenblick in der Geschichte Brasiliens erinnern“, meint der frühere Präsident Henrique Cardoso. „Ich habe mich dafür eingesetzt, das Verfahren aufzuschieben, aber ich verstehe, dass die Handlungsstarre der Regierung überwunden werden muss.“

Täter und Opfer

Schuld daran trägt nicht allein die Präsidentin. Angesichts des Rechtsrucks, den es nach den Wahlen von 2014 im Kongress gab, verweigerten sich immer mehr Parteichefs jeder Koalition mit der Arbeiterpartei. Es kam erschwerend hinzu, dass es Rousseff an Charme, Geschick und Skrupellosigkeit fehlte, sich dennoch den nötigen parlamentarischen Beistand zu sichern.

Ihr Vorgänger im Amt, Inácio Lula da Silva, besaß diese Eigenschaften ausnahmslos und kam trotzdem nicht ohne ein System der Bestechung aus, wie es später mit dem Mensalão-Skandal offenbar wurde. Er wusste, wie man die Stimmen kleinerer Parteien „erwirbt“. Unter seiner Aufsicht wurden Gelder vom staatlichen Ölkonzern Petrobras eingesetzt, um Wahlkämpfe, manchmal auch den aufwendigen Lebensstil von Politikern quer durch das Parteienspektrum zu finanzieren. Gegen Lula und Dutzende andere PT-Größen wird längst im sogenannten Lava-Jato-(Autowäsche)-Verfahren ermittelt. Nicht so gegen Dilma Rousseff, die sich bestenfalls der Unterlassung schuldig gemacht hat.

„Sie war selbst nie korrupt, aber leider auch politisch nicht in der Lage, das System der Bestechung aufzurollen, also hat sie dieses System schließlich eingeholt“, glaubt Cardoso. „In diesem Sinne war sie Täter und Opfer zugleich. Doch ist sie auch deshalb gescheitert, weil ihr Charisma und Erfahrung fehlten, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen oder Absprachen mit ihren Gegnern zu treffen. Lula wollte sie unbedingt als Nachfolgerin, ohne dass er zuvor jemanden in der Partei konsultiert hätte.“

Bis Mitte 2013 war Rousseff eine populärere Präsidentin. Doch als der wirtschaftliche Aufschwung versackte und die Straßenproteste begannen, gaben ihre Zustimmungswerte rapide nach. Insidern zufolge soll sie darauf mit Starrsinn und Verschlossenheit reagiert haben. Sie hatte bewahrt, was während ihrer Studentenzeit in Belo Horizonte im Widerstand gegen die Militärdiktatur unverzichtbar war.

„Sie war nie eine große Kommunikatorin“, meint Apolo Lisboa, ein Genosse aus Rousseffs Zeit in der klandestinen, marxistischen Gruppe Política Operária. „Umso mehr war sie stets sehr mutig – das zeichnete sie aus.“

1970 wurde Rousseff mit einer Pistole in ihrer Handtasche verhaftet und in das Tiradentes-Gefängnis gesteckt, wo sie mit Elektroschocks gefoltert und sexuell missbraucht wurde. Mitgefangene erzählen, sie habe ihnen Kraft gegeben, da sie nie jemanden verraten habe.

Jonathan Watts ist Lateinamerika-Korrespondent des Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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