Auf die Frage, ob es in Deutschland eine neue Gefahr von Antisemitismus gebe, antwortete Außenminister Joschka Fischer am vergangenen Wochenende zunächst mit Bezug auf die radikale Linke: "Das sind die selben Argumente, die früher in meiner Generation in der radikalen Linken kamen" und setzte fort: "Es war der Mechanismus: Die Opfer werden Täter und damit haben die Nachkommen der Täter die Möglichkeit, sich zu entlasten." Wo er über die radikale Linke redete, hätte Fischer auch Politiker der Regierungsparteien kritisieren können. "Richtig, hier sind die Opfer der Opfer versammelt", verkündete Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) als er am 18. April im Rathaus 50 Palästinenser empfing. Aber Fischers Bereitschaft, Geschichtsre
srevisionismus oder Antisemitismus zu kritisieren, endet dort, wo es um die Regierungsparteien geht.Bundeskanzler Gerhard Schröder dachte bei der Kommandeurstagung der Bundeswehr am 8. April in Hannover laut darüber nach, ob es im Nahen Osten nicht notwendig sei, die Konfliktparteien auch mit "militärischen Mitteln" zu trennen. Eine mögliche Beteiligung Deutschlands hieran bezeichnete Schröder als "offen" (Freitag 17/02). Ein Mitarbeiter Schröders ließ anschließend noch verlauten, ein Einsatz der Bundeswehr in Israel und Palästina wäre der "Schlussstrich unter die Scheckbuchdiplomatie". Es liegt nahe, dass genau dies der Grund für Schröders Vorstoß war: Mit einem Bundeswehreinsatz in Israel würde Deutschland ein "normales Land" werden und Auschwitz und die Shoah nur mehr ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte, das keine internationale Zurückhaltung mehr erforderte.Gleichzeitig mit der zunehmenden Kritik von Politikern an Israel tritt ein antisemitisches Ressentiment zutage, das sich auch gewalttätig äußert. Allein in Berlin hat es in den vergangenen Wochen mehrere tätliche Überfälle auf als Juden erkennbare Passanten gegeben. Am Abend des 14. April wurden zwei Jüdinnen einer U-Bahn in Neukölln von zwei Männern beleidigt und geschlagen. Zuerst fragten sie eine junge Frau, die eine Kette mit einem Davidstern offen um den Hals trug, ob sie Jüdin sei. Sie rissen ihr die Kette vom Hals und schlugen sie. Ihre Mutter, die ihr helfen wollte, wurde ebenfalls ins Gesicht geschlagen. Die beiden Täter konnten fliehen.In Frankfurt am Main wurde nach der Kundgebung zur Solidarität mit Israel am 10. April ein 75-jähriger Demonstrant auf dem Rückweg brutal von hinten zusammengeschlagen, als er sein Transparent im Auto verstauen wollte. Die Täter wurden nicht gefasst.Beim jüdischen Holocaust-Gedenktag Yom Hashoah kam es in Berlin am 9. April zu Störungen. Im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wurden auf dem Wittenbergplatz die Namen von 56.000 ermordeten und deportierten Berliner Juden verlesen. Am Rande des Gedenkens kam es immer wieder zu Zwischenrufen von Passanten, die ihre Kritik an Israel meinten dort vorbringen zu müssen.Am helllichten Tag auf dem Berliner Ku`damm ist nicht mehr vor Angriffen sicher, wer als Jude identifizierbar ist. Am Ostersonntag wurden dort zwei junge orthodoxe Juden auf offener Straße verprügelt. Die Täter entkamen.Die hier geschilderten Vorfälle kamen in Tageszeitungen nur als Kurzmeldungen vor. Die Aufzählung ließe sich verlängern. Aber während das militärische Agieren Israels in den besetzten Gebieten Titelthema ist, sorgen antisemitische Überfälle in Deutschland nicht für großes Aufsehen. Einige der antisemitischen Angriffe wurden, so betont die Polizei, von "arabisch-stämmigen" Migranten verübt. Dies wird oft wiederholt, um hervorzuheben, dass es nicht "wir Deutschen" sind, die jüdische Menschen beschimpfen und zusammenschlagen. Dabei liegt es in der gesellschaftlichen Verantwortung, dass antisemitische Überfälle nicht unterbunden werden und es kaum Proteste dagegen gibt.Ein mit Klischees behaftetes negatives Bild von Israel wird zunehmend dominant, wie Netanel Schwarz, Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, gegenüber dem Freitag feststellt: "Seit Beginn des Aufstandes und der Terrorwelle gegen israelische Zivilisten ist eine Zunahme des Antisemitismus zu spüren. Das Existenzrecht Israels wird immer vehementer bestritten, diese Position gilt inzwischen als salonfähig."Juden werden von Nichtjuden derzeit oft für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht. Schwarz erzählt eine typische Situation: "Ich sitze mit Leuten im Café und irgendwie erfährt jemand, den ich nicht kenne, aus dem Gespräch, dass ich jüdisch bin. Die erste Frage: Gibt es denn hier überhaupt eine Synagoge in Hamburg? Ja, sage ich, in der Hohen Weide. Die zweite Frage: Wann, meinst du, setzt Israel denn die Atombombe ein?"Je mehr die Situation im Nahen Osten eskaliert, desto deutlicher melden sich in Deutschland Politiker mit antiisraelischen Ansichten zu Wort, quer durch die Parteien - insbesondere aus den bürgerlichen Oppositionsparteien verbreiten Wahlkämpfer plakative Statements. Norbert Blüm (CDU) bezeichnete das israelische militärische Vorgehen als einen "hemmungslosen Vernichtungskrieg". Aber auch der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete der Grünen, Jamal Karsli, äußerte sich ähnlich: Im Nahen Osten sei "ein unschuldiges Volk den Nazi-Methoden einer rücksichtslosen Militärmacht schutzlos ausgeliefert". Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, konterte am 5. April in der Welt: "Blüm und andere sollten vorsichtiger mit Formulierungen sein, die Assoziationen zwischen dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg und dem Kampf gegen den Terror im Nahen Osten herstellen. Ursache und Wirkung werden von Blüm völlig außer acht gelassen. "Ich weiß nicht, wie deutsche Politiker reagieren würden, wenn hier tagtäglich Zivilisten von Terroristen umgebracht würden."Jürgen Möllemann, stellvertretender FDP-Chef und Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, brachte Verständnis für die Absichten militanter Palästinenser auf. Er erklärte am 3. April in der taz: "Ich würde mich auch wehren, und zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjäger-Offizier der Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Land des Aggressors."Paul Spiegel stellte in der Welt klar, dass Möllemann kein Einzelfall ist: "Nicht nur rechtfertigt er ohne Vorbehalte den Terrorismus und seine Gewaltakte als politisches Mittel der Auseinandersetzung, er setzt damit auch eine gefährliche Tradition fort, die im Land der Mörder, das den eliminatorischen Antisemitismus bis zur letzten Kriegsminute praktizierte, offensichtlich immer noch existiert: Anstatt gegen Antisemitismus zu mobilisieren - was hier zu Lande tatsächlich etwas Neues wäre - wird in Sachen Feindmarkierung eher der Schulterschluss mit den Antisemiten praktiziert."FDP-Chef Guido Westerwelle bestätigte Spiegels Aussage unfreiwillig durch seine harsche Reaktion: "Es ist unangebracht, wenn Vertreter des Zentralrats der Juden reflexartig Kritikern der israelischen Regierungspolitik ihre moralische Integrität absprechen."Im Interview mit der Frankfurter Rundschau antwortete der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, am 18. April auf die Frage, ob es in Deutschland einen latenten Antisemitismus gebe: "Das glaube ich nicht." Damit war für ihn das Thema geklärt. Außer jüdischen Verbänden scheint kaum jemand einen zunehmenden Antisemitismus in Deutschland zu bemerken.
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