Vor Auschwitz

Geschichtspolitik War der Genozid an den Herero und Nama eine Blaupause für den Holocaust? Ein Streitgespräch über Rassismus und Antisemitismus
Ausgabe 34/2017
Demonstranten am Jahrestag der sogenannten Berliner Afrika-Konferenz, 2015
Demonstranten am Jahrestag der sogenannten Berliner Afrika-Konferenz, 2015

Foto: Ipon/Imago

Es begann mit einem Artikel und einem Titel, der Provokationspotenzial hatte. Publizist Alan Posener hatte angesichts der Rufe, Straßen im afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding, die nach Figuren deutscher Kolonialgeschichte benannt sind, umzubenennen, ein differenzierteres Bild des Kolonialismus eingefordert. Dem widersprach Historiker Jürgen Zimmerer. Hintergrund für den Streit ist auch die Debatte um die Frage, ob es eine Kontinuität zwischen Kolonialzeit und Nationalsozialismus gibt und der deutsche Vernichtungskrieg gegen Herero und Nama ein Vorläufer der Shoah war. Hitler behauptete, das Konzentrationslager sei eine englische Erfindung.

der Freitag: Herr Posener, Sie haben einen Artikel geschrieben, der im Netz die Überschrift trug: „Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus“. Die Überschrift war eine Provokation.

Alan Posener: Sie sind Journalist, ich bin Journalist, wir wissen beide, wie Überschriften zustande kommen. Wichtig ist der Text darunter.

Jürgen Zimmerer: Der Text war weniger plakativ, aber nicht weniger provokant.

Herr Zimmerer, Sie haben sich zu einem Tweet provoziert gefühlt: „Und Hitler verdanken wir die Autobahn.“ Daraus entstand zwischen Ihnen eine Debatte, die wir gerne hier aufgreifen würden. Was werfen Sie sich gegenseitig vor?

Posener: Ich werfe Herrn Zimmerer vor, dass er keine Ahnung vom Holocaust hat. Hätte er Ahnung, würde er keine unsinnigen Parallelen ziehen.

Zimmerer: Ich habe keine Parallele zwischen den Ereignissen gezogen, sondern darauf hingewiesen, dass mich die Überschrift an das unsägliche Aufrechnen der nationalsozialistischen Verbrechen mit den „Errungenschaften“ des „Dritten Reiches“ erinnerte, die ich vollkommen ablehne. Aber wenn ich es richtig sehe, werfen Sie mir eine Verharmlosung des Holocaust vor – und ich Ihnen eine Verharmlosung des Kolonialismus.

Posener: Man darf den Kolonialismus nicht mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen, die deutschen Massaker in Südwest nicht mit dem Holocaust. Sie aber schrieben vor einigen Jahreneinen Essay mit dem Titel: Von Windhuk nach Auschwitz

Zimmerer: Fragezeichen!

Posener: Also gut, Fragezeichen. Sie legen dar, dass es eine Kontinuität kolonialer Mentalitäten gegeben habe, die am Ende nach Auschwitz führte. Und Sie sagen, dass diese Kontinuität auch über Auschwitz hinausführt, in die heutige Globalisierung, übrigens auch in den Moslemhass. Ich teile diese Thesen nicht. Ich glaube, Sie überschätzen den Kolonialismus, Sie unterschätzen den Antisemitismus und Sie missverstehen den Anti-Muslimismus.

Zur Person

Alan Posener, Jahrgang 1949, ist ein britisch-deutscher Journalist und Korrespondent für Politik und Gesellschaft bei der Welt-Gruppe. Er hat unter anderem Bücher über John F. Kennedy und Papst Benedikt XVI. geschrieben

Foto: UHH/Dingeler

Zimmerer: Ich bin Globalhistoriker und befasse mich mit Namibia und der Geschichte des deutschen Kolonialismus und mit Vergleichender Genozidforschung. Ich sehe den Holocaust auch in einer Tradition des Genozids. Es gibt in der deutschen Geschichte eine Genealogie des genozidalen Gedankens. Vierzig Jahre vor dem Holocaust haben die Deutschen sich bereits eines anderen Völkermordes schuldig gemacht – an den Herero und den Nama. In Deutsch-Südwest-Afrika entstand ein Rassenstaat, es gab die Ideologie, es gab die Gesetze, es gab militärische und bürokratische Strukturen, die diesem Ziel angepasst und untergeordnet wurden. Ich halte es geradezu für unplausibel, hier keine Verbindung zu den später erfolgten Verbrechen des „Dritten Reiches“ zu sehen. Im Gegenteil: Die Deutschen, die 1941 nach Osten zogen, sahen sich auch als Kolonisatoren. Ich fragte mich, ob ihnen dies erlaubte, sich über das Verbrecherische ihres Tuns hinwegzutäuschen. Hitler hat etwa gesagt: „Russland ist unser Indien und die Wolga ist unser Niger.“

Posener: Ja, es gibt solche Zitate. Aber Hitler hatte gar keine Ahnung vom britischen Kolonialismus. Er hat auch gesagt: „Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren.“ Aber er hat die britische Herrschaft in Indien völlig missverstanden.

Die Briten haben die indische intellektuelle Schicht nicht ausgerottet. Im Gegenteil, viele Inder besuchten britische Universitäten, wurden – wie etwa Gandhi – Rechtsanwälte und bekleideten in der Verwaltung Indiens und anderer Kolonien wie Südafrika wichtige Funktionen. Und sie haben in Indien auch keine Klasse von Heloten schaffen wollen. Im Gegenteil. Die Briten verabscheuten das Kastensystem, aber sie trauten sich nicht, es abzuschaffen. Die britische Herrschaft beruhte nicht auf Mord und Totschlag, sondern auf der Kooptation eines nicht unbedeutenden Teils der indischen Elite, nicht zuletzt mit dem ernst gemeinten Versprechen von Fortschritt und – irgendwann – Selbstverwaltung als „Dominion“.

Zimmerer: Sie haben in dem Punkt Recht, dass Hitler den britischen Kolonialismus nicht wirklich kannte. Aber darauf kommt es bei meinem Argument auch nicht an. Entscheidend ist die Existenz einer kolonialen Vorstellung, die es den Deutschen erlaubte zu sagen: Wir machen nichts anderes als die anderen auch.

Samuel Maharero, Anführer des Aufstandes gegen die deutsche Kolonialmacht im heutigen Namibia, 1905 (links), umstrittener Reichskommissar in Deutsch-Südwestafrika Nachtigall, 1900 (rechts)

Fotos: Christian Ditsch/Ullstein, Bettmann/Getty Images

Dann lassen Sie uns zunächst über den Kolonialismus reden. Gibt es einen „guten Kolonialismus“? Herr Posener, ihr Vater war doch für die Briten in Kalkutta …

Posener: Kuala Lumpur. Er hat dort in den 1950er Jahren eine Architekturschule aufgebaut, ja, im Dienst des Colonial Office. Er war ein Kolonialbeamter – wenn auch in der Endphase der Kolonialgeschichte. Allerdings ist er nicht ganz freiwillig dorthin gegangen. Er musste als Jude Deutschland verlassen und ist dann dort gelandet. Ich bin selber noch aufgewachsen in Kuala Lumpur. Mütterlicherseits war mein Ur-Urgroßvater ein christlicher Missionar. Irgendwann ist er im heutigen Sri Lanka an einer fürchterlichen Krankheit gestorben, und es gibt die Geschichte, dass die Eingeborenen – ich darf das jetzt im Widerspruch zum heutigen Sprachgebrauch so nennen, ja? – heulend an seinem Totenbett standen. Das glaube ich sofort. Verstehen Sie? Der ist ja nicht nur dorthin gegangen, um den Gummiplantagenbesitzern den Weg zu ebnen, sondern weil er ein Protestant war und das Werk Christi vollbringen wollte. Es ging um Erziehung, um medizinische Infrastruktur, es ging um eine echte mission civilisatrice. Kipling singt davon in seinem großartigen Gedicht über die Bürde des weißen Mannes.

Kipling singt in der „Road to Mandalay“ aber auch von Langeweile und Abenteuersucht des weißen Mannes und von den schönen Mädchen east of suez.

Posener: Ja, natürlich. Wir hatten in Kuala Lumpur ein Haus, ein Auto, einen Gärtner und zwei Kindermädchen, die ich heiß und innig geliebt habe. Natürlich war das ein ganz anderes Leben als in einer Zweizimmerdachwohnung in London, wo mein Vater später Lehrer in der Architekturschule war. Und natürlich, wenn ich anno 1956 in Malaysia Chinese oder Inder oder Malaysier gewesen wäre, dann hätte ich auch nur darauf gewartet, dass die Kolonialherren endlich verschwinden. Ihre Zeit war abgelaufen.

Zimmerer: Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe von Geschichtsbetrachtung ist, Etiketten wie „gut“ oder „böse“ zu verteilen. Ich möchte historische Mechanismen verstehen. Es gibt eine sehr brauchbare Definition des Kolonialismus als „Herrschaftsverhältnis unter Ausnutzung einer Entwicklungsdifferenz“. Wir würden heute wohl noch hinzufügen: einer angenommenen Entwicklungsdifferenz. Was Kipling angeht – den lese ich auch sehr gerne. Aber ich glaube ihm kein Wort. Die Zivilisationsmission, von der da eben die Rede war, die war vorgeschoben. Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich gab es einzelne Repräsentanten, die in die Fremde gegangen waren, um aus ihrer Sicht Gutes zu vollbringen. Das gehört zur Ambivalenz des Kolonialismus. Aber ich würde mich strikt gegen die Aussage wehren, der Kolonialismus sei wegen irgendeiner Zivilisationsmission gewissermaßen gerechtfertigt gewesen. Das war weder die primäre Intention der Kolonialisten noch wollten diese Menschen von den europäischen Mächten „zivilisiert“ werden. Und im Zuge ihrer „Zivilisierung“ haben sie an ihnen die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen begangen. Ich bin der Auffassung, dass der koloniale Gedanke, der imperiale Gedanke – auch in der aktuellen Politik – automatisch in diese Form der Gewalt umschlagen muss. Andersherum gilt: Die Wahrscheinlichkeit für Gewalt sinkt, wenn man von Gleichberechtigung der Parteien ausgeht.

Der verdrängte Völkermord

Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts wurde von Deutschen verübt. In der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, führten die kaiserlichen „Schutztruppen“ von 1904 bis 1908 einen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama, die gegen die koloniale Eroberung Widerstand leisteten. Nach der Schlacht am Waterberg wurden Zehntausende Herero in die Omaheke-Wüste getrieben, viele von ihnen wurden erschossen oder verdursteten. Die Überlebenden mussten ebenso wie gefangene Nama in Konzentrationlagern Zwangsarbeit leisten, ein großer Teil von ihnen starb an Hunger und Krankheiten. Nach Schätzungen von Experten wurden 85.000 Menschen ermordet.

Der Wortlaut der Vernichtungsbefehle, die Generalleutnant Lothar von Trotha gegen die Herero erließ, und die darauffolgenden Verbrechen entsprechen den Kriterien des Völkermords. Es dauerte dennoch mehr als 110 Jahre, bis die Bundesregierung im Jahr 2015 diesen Begriff zum ersten Mal verwendete. Davor wurde der Genozid als „Gewaltexzess“ und „dunkles Kapitel“ heruntergespielt. Entschädigungszahlungen verweigert die Bundesrepublik bis heute. Im Oktober vorigen Jahres fand in Berlin zum weltweiten „Tag der Reparationen“ ein Kongress zum Genozid statt, an dem auch eine Delegation von Vertretern der Herero und Nama teilnahm Im Anschluss zog ein Protestmarsch zum rekonstruierten Stadtschloss, in dem Kaiser Wilhelm II. residierte. 2019 soll dort das Humboldt-Forum eröffnet werden. Die dafür geplante Ausstellung mit Exponaten aus dem ethnologischen Museum sorgt für eine Debatte um Raubkunst und koloniale Verbrechen. Martina Mescher

Am Ursprung Ihrer Auseinandersetzung lag ja der Streit um den Berliner Nachtigalplatz. Er erinnert an Gustav Nachtigal, einen Arzt, Abenteurer und Afrikaforscher. Der Mann war offenbar kein schlimmer Kolonialverbrecher, aber eine ambivalente Figur war er mindestens. Der Platz soll umbenannt werden. Daran haben Sie sich gestört, Herr Posener.

Posener: Menschen sind ambivalent. Und die Geschichte des Kolonialismus ist es ohnehin. Nachtigal ist dafür ein gutes Beispiel. Historische Säuberungen im Nachhinein haben immer ein Geschmäckle – Nachtigal war ja weder Hitler noch Thälmann.

Zimmerer: Aber Herr Posener, der Mann sollte mit dieser Benennung doch für seine Rolle im Kolonialismus des Kaiserreichs geehrt werden. Und mit ihm und seinesgleichen wollten die Deutschen ihre imperiale Vergangenheit feiern. Und deshalb steht diese Namensgebung in der Kritik.

Posener: Ah, der gute alte Imperialismus! Ich will Ihnen was sagen: Imperien sind in der Weltgeschichte die Regel. Die Ausnahme, das ist die Vorstellung eines Staatsvolks und eines selbstständigen Nationalstaats. In Europa war praktisch jeder Staat in seiner Geschichte auch imperial. Außer der Schweiz. Also, von Alexander, über die Perser, die Römer zum Reich Karls des Großen, zu den Arabern bis zu den europäischen Kolonialreichen und zum Osmanischen Reich – alles Imperien. Ich bin übrigens unbedingt für eine Ehrenrettung des Osmanischen Reiches. Sehen Sie nach Syrien, in den Irak – was hat der Oktroi des nationalstaatlichen Gedankens in diesen Ländern angerichtet. Den Leuten ging es unter den Osmanen besser.

Man könnte auch sagen, was hat die neo-imperiale Politik der Amerikaner im Nahen Osten angerichtet …

Posener: Sie nennen diese Politik „neo-imperial“ – ich halte sie für nicht imperial genug. John Maynard Keynes hat den Frieden von Versailles mit dem Hinweis kritisiert, dass sich die Zerschlagung der europäischen Reiche, insbesondere Österreich-Ungarns, als die größte Torheit des 20. Jahrhunderts erweisen würde. Bitte, er hatte Recht! Was wir später als Anti-Imperialismus erlebt haben, das war nicht selten ein engstirniger, ausschließender, rassenbasierter Nationalismus – Ausnahmen wie Gandhi und Mandela bestätigen die Regel. Immer endet es damit, dass innerhalb eines sogenannten befreiten Gebiets andere, neue Minderheiten ausgemacht werden, die viel schärfer unterdrückt werden, als es vorher die Regel war.

Aber es gibt keine demokratischen Imperien.

Posener: Ja, tatsächlich. Das ist bemerkenswert: die Demokratie scheint an den Nationalstaat gebunden zu sein, aber der Rechtsstaat an das Imperium.

Zimmerer: Sie deuten ja auch die EU als Versuch eines wohlwollenden Imperialismus. Das halte ich für eine interessante Beobachtung. Vielleicht hilft das, das sogenannte Demokratiedefizit zu erklären, das wir alle beklagen Aber Sie gehen weiter und sagen, die EU habe vom Kolonialismus die Zivilisationsmission übernommen. Das ist nun wirklich Unsinn. Wie bereits gesagt, war die Zivilisationsmission nur vorgeschoben, und das gilt auch für die EU. Unsere Debatte, der Streit um die Straßennamen, das zeigt doch alles, dass wir unsere Kolonialgeschichte und ihre Bedeutung noch gar nicht richtig verstanden haben. Sie sehen es übrigens auch bei der Debatte um das Humboldt-Forum – noch eine Kolonialdebatte, die wir gerade führen. Da ist die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die gerade aus der Expertenkommission des Humboldt-Forums ausgetreten ist, weil der geplante Umgang mit den asiatischen und den ethnologischen Sammlungen weit hinter dem Stand der gegenwärtigen postcolonial studies zurückbleibt.

Zur Person

Jürgen Zimmerer, Jahrgang 1965, ist Professor für Geschichte an der Universität Hamburg. Der Historiker und Afrikawissenschaftler forscht insbesondere zur deutschen Kolonialgeschichte und ihren Nachwirkungen in Deutschland

Foto: Future Image

Sie hat gesagt: „Ich möchte wissen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft.“

Zimmerer: Ja. Und sie hat Recht. Es ist doch erschreckend, dass selbst die Intendanz eines solchen Hauses offenbar nicht begriffen hat, was Kolonialismus ist.

Posener: Ich möchte zum Anti-Imperialismus zurückkommen, der bei uns ja einen fantastischen Ruf hat. Sehr oft zu Unrecht, wie ich finde. Denn auch der Antisemitismus der Nazis hatte einen antiimperialistischen Zug. Der Hass auf die Juden entsprang einem Gefühl der Unterlegenheit. Insofern unterscheidet sich der Antisemitismus von allen anderen Formen des Rassismus dadurch, dass er Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes ist. Der koloniale Rassismus erwächst dagegen aus einem Gefühl der Überlegenheit.

Zimmerer: Ja, das ist richtig. So wie sich die Deutschen den Slawen überlegen gefühlt haben, als sie den Osten kolonisieren wollten. Das entspricht genau meiner These. Und es ist dieser Punkt, den Posener jetzt erwähnt hat, der den Holocaust in der Genealogie des Genozids zu einem singulären Ereignis macht. Es ist die besondere ihm zugrunde liegende Ideologie – nicht die Zahl der Toten und auch nicht die Art zu töten.

Ist es eigentlich wichtig, ob der Holocaust singulär ist?

Zimmerer: Ich halte diese Frage – war der Holocaust singulär? – aus wissenschaftlicher Sicht nicht für beantwortbar. Ich würde die Frage darum anders formulieren: Was am Holocaust war singulär? Das ist eine Frage, die ich für wissenschaftlich-historische Forschung produktiv machen kann.

Posener: Das Singuläre ist, wie Zimmerer gesagt hat, die ideologische Konstruktion des Antisemitismus. Der heutige Anti-Muslimismus weist gewisse Ähnlichkeiten auf, weil er auch einem antiimperialen Impuls folgt, dem Bedürfnis, sich gegen eine angenommene Eroberung zur Wehr zu setzen. Aber das ist im Unterschied zum deutschen Antisemitismus nicht zu einem fertigen Gedankengebäude ausgereift. Der Jude war nicht nur der Andere, sondern geradezu der Gegenentwurf zum arischen Menschen. Timothy Snyder hat davon gesprochen, dass mit den Juden überhaupt die Vorstellung ausgerottet werden sollte, es gäbe etwas anderes in der Welt als Rassen und den Kampf der Rassen untereinander. Mit den zehn Geboten begann etwas Neues in der Geschichte – sie gelten für alle Menschen und mit ihnen wurde ein universalistischer Anspruch des Menschentums begründet. Als die Deutschen die Herero und die Nama massakrierten, sagte Reichskanzler von Bülow daheim noch: „Das sind doch Menschen.“ Diesen Einwand gab es bei den Juden später nicht mehr, das waren keine Menschen. Und die Slawen waren nur Untermenschen.

Man kann das mit der Einzigartigkeit aber auch ganz anders sehen, oder? Die aus Jamaika stammende Kulturhistorikerin Imani Tafari-Ama kümmert sich gerade in Flensburg um die Kolonialgeschichte dieser Handelsstadt, und sie hat neulich gesagt, die Europäer müssten anerkennen, dass die Verschleppung der Afrikaner im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte sei – größer als der Holocaust. Offenbar hängt der Blick auf die Geschichte auch davon ab, welchem Kulturkreis man angehört.

Posener: Kulturkreis? Diese Frau spricht Englisch, sie ist Wissenschaftlerin, Teil einer internationalen akademischen Community. Sie hat keine eigene Geschichte. Ebenso wenig wie ich. Ich komme auch nicht daher und sage, weil mein Vater in die Gaskammer gewandert wäre, wenn er hiergeblieben wäre, habe ich einen anderen Blick auf die Geschichte als Sie. Wir hier am Tisch sind Deutsche und haben eine Verantwortung für den Holocaust, wir sind auch Europäer und haben eine Verantwortung für die Aufarbeitung der Sklaverei und der Kolonialgeschichte. Aber diese Dame aus Jamaika ist ein Mensch wie wir und kann sich darum keiner dieser Verantwortungen entziehen.

Zimmerer: Ich finde die Aussage von Posener schwierig. Wer hat das Recht auf welche Gefühle? Wenn man es mit jemandem zu tun hat, dessen Wurzeln in einer Herrschaftsstruktur auf der Opferseite liegen – welches Recht habe ich, ihm Vorschriften über seine/ihre Identität zu machen?

Posener: Oh Gott. Da reden Sie ganz ähnlich wie die Kollegin, die mir neulich vorgeworfen hat, dass mir die „Opferperspektive“ fehle, weil ich gesagt hatte, dass mein Vater Kolonialbeamter war. Gut, wenn ich gesagt hätte, mein Vater war Verfolgter des Nazi-Regimes, dann wäre ich auf der sicheren Seite gewesen. Das ist doch absurd!

Zimmerer: Sie haben geantwortet: „Das lass ich mir von einer Arierin nicht sagen.“ Das hat nicht gerade zur Versachlichung der Diskussion beigetragen.

Posener: Da wollte ich auch nicht sachlich sein.

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