Vor dem Punkrock

Dokumentation Rodrigo González, der Bassist der Band Die Ärzte, reist nach Chile und sucht Spuren der Musik seiner Kindheit
Ausgabe 32/2016

Manchmal sind Zwischenwelten eine glückliche Folge des Exils. Für den deutsch-chilenischen Musiker Rodrigo González trifft das genau zu. Davon zeugt der Dokumentarfilm El Viaje – González’ Reise nach Chile, auf den Spuren der Musik seiner Kindheit.

Doch oft bleiben auch in der Folge des Exils nur geschiedene, einsame, entzweite, in sich unvermittelte Gegenwelten, die ihm einen traurigen Stempel aufdrücken: „Du hast alles vereinnahmt / und lässt mich nackt durch die Welt irren … / Ich jedoch hinterlasse dich … stumm! … / Und wie willst du das Korn einbringen / und das Feuer nähren, / wenn ich den Gesang mitgenommen?“ So stirbt 1968 einsam und gebrochen der spanische Dichter León Felipe in Mexiko.

Hamburger Jungs

Immer wieder das Exil, ein tödlich paralysierendes Unglück oder ein befreiend fruchtbares Unterfangen – eingebettet in doppelte Perspektiven. Gegen- und Zwischenwelten. Doppelte Bindungen als Daseinsformen des Exils – quer zwischen sich zuweilen umkehrenden eigenen und fremden Bezugspunkten. Müssen sie unbedingt in einem Entweder-oder verharren? Oder gelingt es, sie durch einen gegenseitigen Wechsel bedingbar zu machen, sie damit vermittelt zu einer Balance zusammenzufügen, die die scheinbar unentrinnbaren Lebens- und Erlebenspolaritäten überwindet? Kann sich also die Not des Exils zu einer dialektischen Tugend wandeln?

Am Anfang hatte sich der Himmel grau gefärbt. Keiner aus der Familie González hatte es sich so vorgestellt – den Weg von Valparaíso, der pittoresken Hafenstadt im Süden Chiles, ins Hamburger Exil, eingeleitet durch Pinochets faschistischen Putsch vom 11. September 1973. So entflieht 1974 der sechsjährige Rodrigo – heute der bekannte Bassist und Sänger der deutschen Punkrock-Band Die Ärzte – mit seiner Familie der mörderischen Maschinerie der Militärdiktatur. Aus dem chilenischen Kind wird bald auch ein deutsches. Doppelt gebunden, wird es erwachsen. Chile bleibt dennoch im Herzen. Pablo Neruda oder Violeta Parra sind beredt genug, selbst in der Fremde identitätsstiftend nachzuwirken. Die alte Sprache ist tägliches Brot, die Witze kommen von chilenischer Zunge. So tritt die Familie der drohenden Entwurzelung energisch entgegen.

Rodrigos Vater gehörte zur Protestmusikbewegung der Nueva Canción Chilena, salopp gesagt, einer Art Politpop, die einst weltweit großes Aufsehen erregte: Victor Jara oder die Gruppen Quilapayún und Inti-Illimani – die ganze Welt hörte ihre Lieder. Kein Wunder, dass Rodrigo Musiker wird. Sein bester Freund, der etwa gleichaltrige Nahuel Lopez (der Regisseur dieses Films), teilt mit ihm die Erinnerung an Chile und das neue Leben in Hamburg. Zwei Welten. Hamburger Jungs mit dem Antlitz des chilenischen Exils.

Lenin scheint passé zu sein

Aber nicht nur Chile bleibt im Herzen, sondern auch die musikalische Synthese, die Chile aus ganz Lateinamerika erzeugt habe: aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien oder Kuba. Camila Moreno, eine der bekanntesten Musikerinnen der neuen Generation, ist kategorisch: „Wir müssen das antinationalistische Punkgefühl von Violeta Parra zurückholen.“ Auch „Chinoy“, der Komponist Mauricio Castillo Moya, fühlt sich diesem Kosmopolitismus verpflichtet. Politischer wird es mit Alonso Núñez. Der Musiker und vielfach ausgezeichnete Menschenrechtler teilt sich derweil die Bühne mit Quilapayún.

Politpop und Punkrock – reine Kontinuität? Oder hatte die Musik mit der Zeit nicht ihre Ausstrahlung verloren? Was bleibt als Erbe jener Folk-Gruppen aus den 60er und 70er Jahren, die zu Agitprop-Zwecken instrumentalisiert wurden? Und was ist mit dem Entweder-oder einer an Carl Schmitt erinnernden politischen Romantik geworden, die einst, als besonders „radikal-chic“ sinnhaft, eine übergenerationelle Brücke zu sein versprach?

Leider erfährt man in El Viaje so gut wie nichts über diese zwingenden Fragen. Die große Schwäche des Films ist seine narrative Linearität, die bei der Kontinuität und Diskontinuität der „rebellischen“ Generationenfolge die musikalischen und politischen Zwischentöne nahezu völlig ausklammert. Was gezeigt wird, ist hingegen ein beeindruckend breites, anarchisch-rebellisches, offenes, surreal anmutendes experimentelles Musikspektrum, das aber mit Agitprop nichts zu tun hat. Unklar bleibt auch, was und wie Rodrigo González dieses musikalische Spektrum in Einklang mit seinem eigenen Repertoire in Deutschland bringt. Man kann gespannt sein.

Ein ebenso schönes wie pikantes Fazit bleibt, dass gegenüber der einstigen Tragik des Exils, nur entzweit oder im unentrinnbaren, auch politisch bestimmten Entweder-oder leben zu müssen (was übrigens der Logik des Kalten Kriegs entsprach), das kosmopolitische Leben als Sinnbild einer neuen Ethik angepriesen wird. Eduardo Carrasco, schon seit langem mit Frankreich eng verbunden, der Kopf von Quilapayún, bezeichnet sich nämlich als „Bürger mehrerer Länder“. Aber: „Es war sehr hart, nach Chile zurückzukommen!“ Dort liest er leidenschaftlich Nietzsche oder Heidegger. Lenin scheint passé zu sein. Wie hatten damals seine politischen Mitstreiter – und wahrscheinlich er selbst – diese bourgeoise Luxusleichtigkeit bekämpft!

Dennoch: Die Produktion von Schönheit war und ist weiterhin Eduardo Carrascos Metier. Dem großen Musiker sei Dank. Rodrigo „Rod“ González steht ihm in nichts nach; er ist nun Protagonist eines schönen Films geworden.

Info

El Viaje – ein Musikfilm mit Rodrigo González Nahuel Lopez Deutschland 2016, 92 Minuten

Hugo Velarde ist Autor, Musiker, Übersetzer und Verleger (BasisDruck Verlag) in Berlin. Er wurde in La Paz, Bolivien, geboren und kam 1977 nach Ostberlin

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