Vor der Resignation gibt es die Revolution

Frankreich Nicolas Sarkozy will in der Rentenfrage hart bleiben, um seine Wahlchancen für 2012 nicht zu verspielen. Aber seine Härte radikalisiert die Protestierenden

Eines steht fest: Der Staatschef wollte vom Konflikt um die Rentenreform ablenken, als er im Sommer die – europarechts- und menschenrechtswidrige – Ausweisung von Roma und das demagogische Medientheater um das Burka-Verbot inszenierte. Im vierten landesweiten Streik innerhalb von fünf Wochen mobilisierten Gewerkschaften und Linksparteien derzeit mehr Teilnehmer als zuvor. Dass es laut Gewerkschaften am 12. Oktober 3,5 Millionen waren, wird indirekt von der Polizei bestätigt, die – wie üblich – 1,5 Millionen zählte, also etwas weniger als die Hälfte. Das gehört zu den Spielregeln. Es ist der seit langem massivste Streik, und er folgte direkt auf die Debatte der Rentenreform im Senat.
Die Steigerung der Teilnehmerzahlen ist Schülern und Studenten zu verdanken. Mit der Parole „Die Rente ist eine Frage der Jugend“ schlossen sie sich der gewerkschaftlichen Kampagne an und brachten viele Menschen auf die Straße. Insgesamt gab es 244 Demonstrationen bei Verkehrsbetrieben, Raffinerien, See- und Flughäfen, Post, Télécom, Radio und Fernsehen. Der Streik bei elf Raffinerien könnte das Land relativ schnell lahmlegen.

Der Regierung Fillon und dem Präsidenten ist es nicht gelungen, die großen Gewerkschaften (CGT, Sud, CFDT) auseinander zu dividieren. Zunächst erklärte sich CFDT-Chef François Chérèque zu Gesprächen bereit, aber als die Regierung nur kosmetische Korrekturen am „Reform“-Projekt anbot – unter anderem Konzessionen für die Frauen –, radikalisierte sich auch diese Gewerkschaft.
Dass der Streit um die Rente so eskalierte, hat vorrangig einen Grund: Es ist nicht die Erhöhung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre und die Vermehrung der Beitragsjahre von 40,5 auf 41,5 Jahre, obwohl gerade dieser zweite Teil der Reform für viele Menschen bedeutet, dass sie bis 67 arbeiten müssen, um eine Rente ohne Abzüge – wegen fehlender Beitragsjahre – zu erhalten. Das Entscheidende ist die Gerechtigkeitslücke: Rund 70 Prozent der Franzosen empfinden es schlicht als Zumutung, dass man die kleinen Leute mit einer Rentenreform bestraft – angeblich wegen leerer Staatskassen, während die Verursacher der Krise mit Steuernachlässen beschenkt werden.

Sarkozy muss in der Rentenfrage hart bleiben, um seine Wahlchancen für 2012 nicht schon jetzt zu verspielen. Aber seine Härte radikalisiert die Protestierenden. Für den 16. Oktober ist ein weiterer Streik abgekündigt, bei dem über unbefristete Kampfmaßnahmen entschieden werden soll, denen in der Bevölkerung 60 Prozent zustimmen. Dass der Streiktag auf einen Samstag gelegt wurde, deutet allerdings daraufhin, dass sich die Gewerkschaften ihrer Sache nicht so sicher sind. Streik bedeutet in Frankreich für die Streikenden Lohnausfall ohne Streikgeld. Streikt man am Samstag, gibt es keine Lohneinbußen. Die Vorsicht der Gewerkschaft beruht auch darauf, dass ihre Einheit eher die Ausnahme denn die Regel ist.

Für die Regierung ist vor allem die massive Beteiligung von Schülern und Studenten ein Menetekel. 300 Gymnasien wurden bestreikt. Dominique de Villepin musste sein Gesetz zur „Reform“ des Kündigungsschutzes 2006 nach landesweiten Protesten in der Schublade verschwinden lassen. Dass dieses Schicksal auch der Rentenreform bevorsteht, ist eher unwahrscheinlich. Auf jeden Fall stellten Sarkozys konservative Freunde vom Figaro dem Präsidenten für diesen Fall bereits eine Todesanzeige wegen „Selbstmord“ aus. Bevor sich Sarkozy dazu entschließt, wird er es aber noch ein paar Mal mit demagogischen Tricks und medialen Inszenierungen versuchen.

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