Vor der Revolution

Film „Kaum öffne ich die Augen“ handelt von der Stimmung in Tunesien 2010
Ausgabe 40/2016

Zweimal sehen wir die Welt durch einen Camcorder. Das Bild wird dadurch gröber, die Bewegungen ungeschliffener, der Raum instabiler. Wir sehen Farah (Baya Medhaffer), die gerade mit Auszeichnung ihr Abitur bestanden hat. Sie singt, und in ihren Blick mischt sich ein unsicheres, aber lustvolles Mienenspiel mit einem ungeziert sorgenvollen Ausdruck: „Wenn ich meine Augen öffne, dann erblicke ich die Beraubten. Beraubt um Arbeit, Essen und Leben.“ Danach sehen wir den Raum um sie herum, Menschen, hauptsächlich Männer, die mitklatschen, sogar tanzen, die verdutzt hinüberschauen zu dem Tisch, an dem gerade dieses junge Mädchen einfach so zu singen angefangen hat, oder die sich gegenseitig abgeneigt ansehen, die sich gestört fühlen und vielleicht auch angegriffen.

Es sind die stärksten Momente in Kaum öffne ich die Augen, dem Langfilmdebüt der tunesischen Regisseurin Leyla Bouzid. Nicht nur weil diese Szenen das thematische Zentrum des Films bilden, in dem es um eine Rockband geht, die sich in der Undergroundszene von Tunis etablieren will und deren Sängerin Farah ist. Sondern weil mit diesen Camcorder-Bildern zweierlei zum Ausdruck kommt: Zum einen eine stärkere Unmittelbarkeit zwischen der Welt und dem Bild, zum anderen die Bösartigkeit, die diese Bilder annehmen können, wenn die falschen Menschen sie produzieren oder zu sehen bekommen.

Es ist der Sommer 2010. Nachts in der Stadt ist einiges los, Farah ist frisch verliebt und in der vollen U-Bahn dicht gedrängt an Bohrène, den Gitarristen der Band; man lacht viel, man trinkt viel, und die strebsame Abiturientin hat ihren ersten Rausch. Hier geht es nicht um eine ausgewiesen aktivistisch-politische Szene, hier geht es um ein ganz allgemeines jugendliches Ausdrucks- und Aufbruchsbegehren. Dass diese Menschen zu den Akteuren des Arabischen Frühlings werden, der ein halbes Jahr später mit der Revolutionsbewegung in Tunesien seinen Beginn nehmen wird, ist anzunehmen, wird aber durch die Inszenierung nicht explizit behauptet.

Die Songtexte, die die klangexperimentierende Rockband ihrem Publikum darbieten, leben von einer Sensibilität gegenüber der maroden sozialen Wirklichkeit, sind aber auch kitschig und naiv. Das autokratische System unter Zine el-Abidine Ben Ali wird aufmerksam auf die Künstler, missbilligt ihre Unangepasstheit und lässt die Gruppe unterwandern. Einmal rezitiert Farah vor Publikum ein Gedicht – es geht um Freiheit. Man stellt den Strom ab, niemand applaudiert, und das Ganze geschieht vor der Linse des bedrohlich dokumentierfähigen Camcorders. Weil die Tochter nun bei der Polizei unter Beobachtung steht, hat die ohnehin besorgte Mutter, gespielt von der tunesischen Sängerin Ghalia Benali, tatsächlich Grund zur Sorge.

Es ist interessant, dass Kaum öffne ich die Augen in unsere Kinos zur selben Zeit kommt wie Mohamed Ben Attias Hedis Hochzeit. Auch dieser Film versucht auf ähnliche Weise die tunesische Umbruchsstimmung der Zehnerjahre zu verlebendigen, ohne die Revolution selbst zu thematisieren. Auch dieser Film ist ein Debütfilm. Das Milieu, für das sich beide Filme interessieren, ist ein mittelständische. Die Häuser, in denen gewohnt wird, sind geräumig und sauber. Die Figuren beider Filme sind keine Revolutionäre, und doch sind sie als Unbeteiligte beteiligt.

Es gibt frappierende Ähnlichkeiten zwischen den Filmen, und es lässt sich (zumindest bei diesen beiden Filmautoren) ein junger tunesischer Realismus erkennen, der versucht, sich mit viel Konzentration filmisch in das einerseits empfindlich angespannte und andererseits melancholische Klima Tunesiens hineinzudenken. Dass beide Filme eine wesensverwandte Grundatmosphäre herausbilden, macht den Vergleich am spannendsten – spielt doch der eine vor und der andere nach der Revolution.

Info

Kaum öffne ich die Augen Leyla Bouzid FRA/TUN/BEL 2015, 116 Minuten

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