Die Debatte um den Umgang mit sogenannten Vorbehaltsfilmen (NS-Propaganda-Spielfilmen) flammt immer wieder auf. Trotz wiederholter Anläufe und der Fürsprache von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), die bisherige restriktive Regelung an die mediale Realität der Gegenwart anzugleichen, hat es den Anschein, als solle der vor einem halben Jahrhundert festgelegte Status quo fortgeschrieben werden.
1945 konfiszierten die Siegermächte unterschiedslos Filmmaterialien aus 50 Jahren deutscher Kinogeschichte. Insbesondere wollte man alle Filme aus der Zeit des NS-Regimes aus dem Verkehr ziehen. Nach Einzelprüfung wurde der Großteil sukzessive wieder freigegeben: rund 1.000 Titel, zumeist Komödien, Melodramen, Abenteuer- oder Revue-Filme, die dominierenden Genres im NS-Kino. Sie gelangten als Reprisen erneut in die Kinos – in West und Ost.
Etwa 200 Filme blieben jedoch verboten, weil sie in den Augen der Alliierten militaristisch, revanchistisch, volksverhetzend, rassistisch oder mit sonstigen Elementen der NS-Ideologie befrachtet waren.
Die Rechte an den meisten der Titel und damit die Verantwortung für selbige wurden der 1966 gegründeten Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung übertragen, die bis heute das Gros der deutschen Spielfilme vor 1945 verwaltet, erhält und vertreibt. Das Stiftungskuratorium beschloss, Vorführungen dieser Titel nur mit begleitenden Vorträgen zuzulassen und auf eine kommerzielle Auswertung zu verzichten. Zudem sollten die Filme von Zeit zu Zeit durch eine Expertenkommission überprüft werden.
Von den 200 inkriminierten Filmen sind seit den 1960er Jahren rund 160 freigegeben worden, viele davon zunächst mit Schnittauflagen, die in späteren Editionen nach Möglichkeit wieder behoben wurden. Rund 40 stehen noch immer unter Vorbehalt und werden in der politischen Bildungsarbeit gezeigt; meist kommen als zentrale Werke dieses „Kanons“ Hitlerjunge Quex (1933), Jud Süß (1940), Ich klage an (1941), Ohm Krüger (1941) und Kolberg (1943-45) zum Einsatz. Es gelten aber nicht alle NS-Propaganda-Produktionen (also auch Wochenschauen) als Vorbehaltsfilme, noch nicht einmal alle propagandistischen Spielfilme. Bei der Murnau-Stiftung liegen nur die Filme von UFA, Terra, Tobis, Berlin-Film, Bavaria Film. Einige der wichtigsten fehlen, etwa Friesennot (1935) oder Heimkehr (1941), Die frühere Beta-Taurus-Film Leo Kirchs (heute Kineos) verfügt über zahlreiche Titel der NS-Zeit. Die Aufführungsrechte an Die Feuerzangenbowle (1944) hält etwa eine Privatperson, die im AfD-Vorstand in Münster sitzt (Freitag 51/2016).
Vielmehr seien es Waffen
Die Vorbehaltsregelung mag in der Prä-Home-Video-Ära angemessen gewesen sein, als Menschen sich noch vor einer Leinwand versammeln mussten, wollten sie Filme sehen, die nicht im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Mochte die Murnau-Stiftung vor zehn Jahren noch mehr oder weniger erfolgreich versucht haben, gegen illegale Auswertungen der Vorbehaltsfilme vorzugehen, so erscheint dies angesichts der divergierenden internationalen Rechtsprechung, vor allem aber durch die massenhafte Verbreitung im World Wide Web heute unmöglich. Die berüchtigtsten Titel sind in voller Länge bei Youtube verfügbar, Hitlerjunge Quex wird dort aktuell von Usern aus Griechenland, Ungarn, Russland und den USA vorgehalten. Aus den USA, wo die Vorbehaltsfilme als „rechtefrei“ gelten, können Titel über Amazon bezogen werden, auch von professionellen DVD-Labels, die gar eine von Harvard-Professor Eric Rentschler kommentierte „Deluxe Restored Edition“ von Jud Süß anbieten.
Vor diesem Hintergrund mutet die hiesige Kontroverse um eine offizielle Zugänglichmachung der Vorbehaltsfilme kurios an, zumal sie nicht nur die längst unwiderrufliche Verfügbarkeit der Filme ignoriert, sondern darüber hinaus von Dämonisierung und reflexartiger Betroffenheit geprägt ist. So wird gelegentlich bezweifelt, ob es sich bei den Vorbehaltsfilmen überhaupt um Filme handele; vielmehr seien es Waffen. Auch wenn diese Deutung den Intentionen des Goebbels-Ministeriums entsprechen dürfte, ist ihr zweierlei entgegenzuhalten: Erstens müssten diese Waffen (also Kriegspropaganda wie Kampfgeschwader Lützow, Stukas, Besatzung Dora, Über alles in der Welt) dann in einen historischen Kontext mit den „Waffen“ der damaligen Feindmächte, nämlich den antideutschen Filmen aus britischer, US-amerikanischer und sowjetischer Produktion gestellt werden, die ebenfalls einen bemerkenswerten Grad an Menschenverachtung und Rohheit aufweisen. Die Propagandafilme Hollywoods jener Ära (etwa Hitler – Dead or Alive, Enemy of Women, The Hitler-Gang) laufen nach wie vor im US-Fernsehen und prägen das Deutschlandbild nicht nur vieler Amerikaner.
Zweitens handelt es sich um Waffen, deren Wirksamkeit erschöpft ist. Ihre Propaganda ist überwiegend durchschaubar, die Darstellungsformen sind antiquiert und artifiziell; in ihrer Überspitzung verkehren sich die damaligen Wirkungsabsichten mitunter ins Gegenteil. Die meisten dieser Filme sollten der FSK mit der Empfehlung vorgelegt werden, sie freizugeben. Die wenigen, die tatsächlich psychologisch so geschickt gemacht sind, dass sie der Kommentierung bedürfen (etwa die oben erwähnten „zentralen Werke“), sollten in einer historisch-kritischen Edition verfügbar gemacht werden, mittels derer sich die Deutungshoheit zurückgewinnen ließe. Warum sollte unmöglich sein, was in einem vergleichbaren Fall geschehen ist: die Herausgabe einer solchen Edition von Mein Kampf im Auftrag des Freistaates Bayern?
Eine von der Murnau-Stiftung autorisierte Edition der Vorbehaltsfilme wäre schon deshalb geboten, um dem Eindruck entgegenzutreten, die Stiftung und ihr Aufsichtsgremium, in dem auch der Bund und das Land Hessen vertreten sind, duldeten die unkontrollierte Verbreitung von NS-Propagandafilmen. Dass auch Rechtradikale sowie deutsche und muslimische Antisemiten zu den Käufern der Edition gehören könnten, ist kein Argument gegen die Herausgabe, denn diesen Kreisen stehen die Filme ohnehin zur Verfügung.
Klage kommt jedoch, wie zu hören ist, von Verbänden wie dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, vor allem aber vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Sie sperren sich unter Hinweis auf die Gefühle der Überlebenden und deren Angehöriger gegen jedwede andere Verbreitung als die bisher praktizierte – und zwar sämtlicher Vorbehaltsfilme. Doch ist nicht die Internet-Verbreitung jenseits einer kritischen Öffentlichkeit viel mehr dazu angetan, die Gefühle von Opfern zu verletzen?
Auch wird ignoriert, dass begleitete Kinovorführungen von Vorbehaltsfilmen inzwischen einen medialen Anachronismus darstellen und nur marginale Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs haben können. Wie viel mehr wäre durch eine weit in die Öffentlichkeit hineinwirkende Auseinandersetzung gewonnen, die an die Stelle des heimlichen Online-Konsums träte! Auch dem immer wiederkehrenden Vorwurf, mittels der Vorbehaltsregelung würde eine De-facto-Zensur ausgeübt, wäre dann der Boden entzogen.
Propaganda gibt es weiterhin
In einer Zeit, in der moderne Propaganda, Gewaltdarstellungen und die härtesten Spielarten der Pornografie nur einen Klick entfernt sind, erscheint die Aufregung um die Vorbehaltsfilme nicht nur weltfremd, sondern scheinheilig. Diese Filme sind einerseits unbestrittener Teil des europäischen Filmerbes und wurden auch in den besetzten und neutralen Ländern Europas millionenfach gesehen. Für die Öffentlichkeit sind sie zum anderen ein wertvolles Anschauungs- und Studienmaterial für die Mechanismen audiovisueller Propaganda, die bis heute in Kraft sind, in der Gegenwart jedoch in viel gefährlicheren, da dem Zeitgeist entsprechenden Formen dargeboten werden. Propaganda ist nicht von gestern, und sie besitzt auch keine historische, an Joseph Goebbels gebundene Exklusivität – auch hierfür könnte eine kritische Edition Sensibilität erzeugen.
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