Voreilig

linksbündig 15 Jahre, die immer wieder die Welt verändern

Der 15. Geburtstag ist nichts Besonderes, möchte man meinen. Wer hat denn schon zu diesem Zeitpunkt einen großen Rückblick auf sein Leben gehalten? Da war noch viel zu viel Zukunft zu erwarten. Der 16. Geburtstag zum Beispiel, der mit Bier, Zigaretten und Mofaführerschein winkte und somit schon mal Erwachsensein auf Probe versprach; bis zur großen Retrospektive mit 50, 60 oder 100 war es noch so weit hin.

Der Kolumnist John Naughton hat ein solches Datum im britischen Observer allerdings nun benutzt, um einen großen historischen Rückblick zu wagen: auf die 15 Internetseiten, die die Welt verändert haben. Denn im Jahr 1991 entwickelte Tim Berners-Lee mit dem World Wide Web eine Nutzung des globalen Computernetzwerks Internet, die für jedermann verständlich und nützlich war, nicht bloß für Technikfetischisten und Elektronikfreaks. Warum die Eloge auf die damit verbundenen revolutionären Veränderungen bereits zum 15. Geburtstag erfolgen muss und nicht erst später, versucht Naughton kulturgeschichtlich zu untermauern: Gutenberg hätte die Revolution, die seine Erfindung ausgelöst hat, zu Lebzeiten nicht mehr erleben können, Berners-Lee dagegen schon, so rasant und radikal hat das WWW alles umgekrempelt. Und tatsächlich: wenn man sich die exponentiell erfolgende Entwicklung der Nutzerzahlen ansieht, die Schaffung völlig neuer Wirtschaftssparten oder die drastische Umstrukturierung von Kommunikationsgewohnheiten, dann ist in diesen fünfzehn Jahren beinahe mehr geschehen, als in den ersten 200 Jahren nach Erfindung des Buchdrucks. Wir sind Zeugen und Teilnehmer einer Explosion, die aber, wenn überhaupt, als ein Schleichen wahrgenommen wird.

Genau diese Rechtfertigung ist aber auch das stärkste Argument gegen einen solchen Rückblick. Gerade weil so viel so schnell passiert ist, ist mit noch mehr noch schneller zu rechnen. Nichts gegen Youtube oder MySpace, das sind phänomenale Erfolge, aber es gibt sie erst seit einem oder zwei Jahren. In diesem Sinne hätte man auch vom Hula-Hoop-Reifen oder vom Zauberwürfel in ihrer Zeit sagen können, dass sie die Art und Weise, wie die Menschheit ihre Freizeit gestaltet, für immer verändert haben.

Schon im November 2005 wählten die Organisatoren der renommierten "Webby-Awards" ihre Top Ten der entscheidendsten Internet-Momente. Darunter finden sich prominente wie Netscape, Lewinsky-Affäre und Napster, aber auch so unspezifische wie "das Wahljahr 2004", der in Deutschland ziemlich unbemerkt gebliebene "Boom von match.com" oder der alles andere als internetspezifische Tsunami im Dezember 2004. Spiegel Online nahm diese Wahl zum Anlass, eine eigene Liste aufzustellen. "Alles Meilensteine der Web-Geschichte, keine Frage", meinte Frank Patalong, fügte aber kritisch hinzu, dass "längst nicht alle eine große Wichtigkeit für den numerischen Erfolg des Webs hatten". Dafür wurden dann die eigenen Log-Statistiken bemüht, um herauszufinden, dass neben klassischen Medienereignissen wie Kosovo-Krieg und Olympische Spiele auch der Verkauf des ersten PC bei Aldi am 10. November 1999 die Zugriffszahlen auf Spiegel Online signifikant erhöht habe. Man sieht, dass das Internet langsam beginnt, historisch zu werden, weil nun an verschiedenen Stellen begonnen wird, über die Entwicklung des Netzes nachzudenken. Man sieht aber auch, dass es sofort unterschiedliche Definitionen dessen gibt, was man als historisches Internetereignis ansehen kann und was nicht.

Letztlich kranken diese Betrachtungsweisen allerdings an einem falschen Verständnis von Geschichte. Zu beschreiben, wer wann welchen Computer wo mit welchem Programm an welchen anderen angeschlossen oder wer wann welche Seite ins Netz gestellt hat, folgt einem streng logistischen Verständnis von sozialer Entwicklung - das ist so, als würde man eine Filmgeschichte schreiben, in der es nur um das Prinzip des Malteserkreuz-Antriebs des Projektors geht, oder eine Literaturgeschichte, die sich nur mit der Entwicklung der Druck- und Bindeverfahren und der Entstehung des Großhändlersystems im Buchvertrieb beschäftigt. Als hätte es keine Filme und keine literarischen Werke gegeben. Den Erfolg als Massenmedium kann das Internet aber nicht aufgrund seiner faszinierenden Technik gehabt haben. Sondern weil irgendetwas in ihm passiert ist, was die Menschen bewegt. Darüber ist von den Experten in ihren Rückblicken allerdings kaum etwas zu lesen.

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