Vorhang auf

Essay Cerstin Gammelin wirft frische Blicke auf die unterschätzten Ostdeutschen
Ausgabe 33/2021

Ehrlich gesagt: Ich hatte keine Lust mehr, über den Osten zu sprechen, keine Lust mehr zu erklären, dass Ostdeutschland nicht der Vorhof von Sibirien war. Ich war es müde zu versichern, dass ich vor 1990 nicht in Handschellen zur Arbeit gegangen und die Liebe einfacher war, weil Status und Herkunft keine Rolle spielten.

Auch verblasst die Erinnerung an das, was wirklich gewesen und vom ostdeutschen Leib wert ist, aufbewahrt zu werden. Friede seiner Asche. Und wieso überhaupt „ost“-deutsch? Bin ich nicht Lausitzer, ein Spreewälder, verwurzelter Baum im schönsten Binnendelta der Welt?

Demokratie-Lab

Und gehört man nicht sowieso zu den Glücklichen? Beim Mauerfall zu jung, um in den Kohl’schen Ruhestand entsorgt zu werden, aber alt genug, um beruflich etabliert zu sein. Ist unsereins – heute so jenseits der 50 Lebensjahre – nicht Teil einer Gewinner-Generation, aufgewachsen im Realsozialismus und hineingestoßen in die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft? Aus der Perspektive dieser Generation hat Cerstin Gammelin ein Buch geschrieben: Die Unterschätzten. Zu diesen rechnet sich die Autorin selbst. Aus dem sächsischen Freiberg stammend stieg die Maschinenbauingenieurin seitlich in den Journalismus ein und reüssierte. 2008 wurde sie Europa-Korrespondentin der Süddeutschen, seit 2015 ist Gammelin stellvertretende Chefin des Parlamentsbüros der SZ – und da auch noch für Wirtschaftspolitik zuständig.

Mit ihrer Berufsbiografie steht Gammelin ziemlich alleine da, nicht nur aufgrund des „Seiteneinstiegs“, sondern auch, weil dieser mit einer Ost-Herkunft gelang. Gammelin weiß, was das bedeutet. Nach dem Mauerfall habe ihre Generation die Erfahrung gemacht, „dass man seine Herkunft besser nicht thematisierte, wenn man Karriere machen und bundesweite Anerkennung haben wollte“, schreibt sie.

Inzwischen haben Ostdeutsche, das sei hinzugefügt, eine gewisse Kreativität entwickelt, sich aus der Deckung zu wagen. Da gibt es im Buch die Erzählung Widerstand: Man habe Wissen und Können trotz des erpresserischen Systems erreicht. Oder die Erzählung Häutung: Man habe sich von der Ost-Prägung losgelöst, diese abgelegt wie eine Schlange ihre alte Haut.

Oder man kommt mit netten Ost-Codes aus der Deckung und wartet darauf, dass das Gegenüber sie bemerkt: Dass man Russisch spricht, die Milch-Mokka-Eisbar besingt oder Marx und Engels im Original kennt (Lenin besser nicht). Viele Leute im Westen haben die Ostdeutschen „einsortiert in Schubladen, die eigentlich so gar nicht ins Selbstverständnis jener passen, die einst friedliche Revolutionäre waren und eiserne Vorhänge durchlässig machten“, schreibt Gammelin und zieht einige Schubladen auf: der Ostdeutsche als Russland-Versteher, der unverstandene Ostdeutsche, der Ostdeutsche, dem man nicht zuhört, der Ostdeutsche, der jammert.

„Wie konnte es passieren, dass die friedlichen Revolutionäre plötzlich zu mentalen wie strukturellen Verlierern stilisiert wurden?“ fragt die Autorin weiter und durchpflügt auf der Suche nach Antwort die Büros aktueller und früherer Ost-Ministerpräsidenten, entdeckt technology made in Jena neu, wälzt die Treuhandgeschichte und findet am Ende, ein Untersuchungsausschuss über die Privatisierungsorgie hätte die bislang unterschätzte Kraft, Gräben zwischen Ost und West zuzuschütten.

Auf den 150 Seiten rüttelt die Autorin an sorgsam gehüteten Tabus der deutsch-deutschen Einheitsgeschichte, spürt nach, wie im Osten strukturelle Ungerechtigkeiten entstanden, die die Region noch auf Jahrzehnte prägen werden. Erfrischend: Gammelin entdeckt den Osten auch als unterschätztes Demokratie-Lab. Dort regierten die erste Kenia-Koalition und die erste linkslinksgrüne Minderheitsregierung.

Die Leute im Osten warteten auch nicht mehr auf heilbringende Investoren, sondern wollten selbst etwas auf die Beine stellen. Allerdings würde dafür – weil Eigentum fehlt – der Staat als eine Art Investor benötigt für „selbstregulierende gemeinschaftliche Strukturen“, die mit den örtlichen Herausforderungen umgehen könnten, also mit dem demografischen, ökologischen, ökonomischen und digitalen Wandel. So eine Art Aufbau Ost ohne Nachbau West schwebt der Wirtschaftsjournalistin vor.

Für die am meisten Unterschätzte hält Gammelin die eigentlich erfolgreichste Ostdeutsche: Das ist – lässt man Katharina Witt mal beiseite – Angela Merkel. Auch die Autorin habe Merkel lange unterschätzt. Inzwischen sei ihr klar geworden, dass Merkels Verdienst für die Bürger im Osten nicht deren bevorzugte Behandlung habe sein können. Zwar habe Merkel nicht vergessen, woher sie gekommen war, konnte sich aber nicht darauf stützen, weil sie eine Kanzlerin für 83 Millionen war, von denen die meisten glaubten, das Leben in der DDR sei so wie in dem Film Das Leben der Anderen gewesen, bringt Gammelin die realideologischen Zwänge auf den Punkt.

Kein Spur von Müdigkeit

Die Delegitimierung der Zeit vor 1990 machte es in Gammelins Lesart selbst für die Kanzlerin schwer, umzusetzen, was am Osten bewahrenswert war (Kita, Poliklinik oder die gleichberechtigte Rolle der Frau in der Arbeitswelt). Das konnte erst dann Schritt für Schritt in die bundesdeutsche Realität Einzug halten, als im Westen ein Reformdruck entstand und die Ostlösung plötzlich Reputation gewann und sich aus der Deckung wagen konnte. Siehe oben.

Gammelins Buch macht Lust, sich wieder mit dem Osten zu beschäftigen. Keine Spur von Müdigkeit im Text. Wer sich wirklich dafür interessiert, was sich im gedanklichen Raum zwischen den Ohren bei den Ostdeutschen abspielt, sollte dieses Buch lesen. Und wer sich nicht dafür interessiert, sollte es kaufen und Leuten schenken, denen das ganze Land am Herzen liegt.

Info

Die Unterschätzten Cerstin Gammelin Econ Verlag 2021, 304 S., 22,99 €

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Geschrieben von

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