Vorrevolutionäre Zustände

Zeitgeschichte Vor 20 Jahren begann in Rheinhausen der wohl längste und härteste Arbeitskampf in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands

"Kruppsche Arbeiter! Nehmt jetzt die historische Stunde wahr, um endlich das auszufechten, was wir ausfechten müssen für unsere Familien, unsere Kinder, für die Menschen in diesem Lande. Und das könnte in Zukunft unsere Parole sein: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Das Buch der Geschichte ist aufgeschlagen. Lasst die Generationen, die nach uns kommen, nachlesen, wie man einen Arbeitskampf führt, wie man diesen Vorstand in die Knie zwingt." So rief ausgerechnet ein Betriebsleiter, der Obermeister Helmut Laakmann, auf einer Belegschaftsversammlung seine Kollegen in den Kampf. Wenige Tage zuvor, Ende November 1987, hatte der Vorstand von Krupp Stahl die Schließung des Rheinhausener Werkes mit seinen 6.300 Beschäftigten angekündigt. Nicht nur der Betrieb, ganz Rheinhausen stand Kopf. Niemand konnte sich vorstellen, wie dieser seit 1975 zu Duisburg gehörende Ort, der Ende des 19. Jahrhunderts erst durch den Bau der Hütte entstanden war, ohne die Hütte existieren sollte. Zwar argumentierte das Unternehmen mit roten Zahlen, aber für die Belegschaft stand fest: Es wäre Wahnsinn, eines der modernsten Stahlwerke Europas stillzulegen. Auch in den anderen Stahlunternehmen des Ruhrgebiets brodelte es. Für Klaus Löllgen, heute IG Metall-Sekretär und damals Sprecher der gewerkschaftlichen Vertrauensleute bei Krupp Rheinhausen, war die Zeit reif: "Die Leute im Ruhrgebiet hatten einfach die Schnauze voll. Durchgängige Meinung war: Das kann so nicht weitergehen. Hier wird Betrieb für Betrieb plattgemacht. Das Klima stand für Arbeitskampf."

Generalstreikähnliche Zustände

Am frühen Morgen des 2. Dezember 1987 ließ die Meldung eines Regionalsenders des WDR die Menschen an Rhein und Ruhr aufhorchen: Die Nachtschicht von Krupp Rheinhausen hatte eine nahebei gelegene Rheinbrücke besetzt und damit eine Hauptverkehrsader lahmgelegt. Das war der Auftakt zu einer Kette von Arbeitsniederlegungen, Demonstrationen und Kundgebungen, mit der die Belegschaft ihre Kollgen in den anderen großen Betrieben der Region aufrütteln wollte. Und es gelang: Bereits am 10. Dezember war das Ruhrgebiet Schauplatz einer konzertierten Aktion von weit mehr als 200.000 Stahlarbeitern, Bergleuten, Metallern und Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes.

In Dortmund sperrten die Hoesch-Arbeiter eine der beiden wichtigsten Ost-West-Achsen der Region. In Gelsenkirchen wurden die zentralen Kreuzungen blockiert. In Bochum versammelte sich die Belegschaft von Opel mit den Kollegen des dortigen Krupp-Werks zu einer Kundgebung. In Hattingen riegelten Stahlarbeiter, Müllwerker und Maschinenbauer sämtliche Zufahrtsstraßen ab. Straßensperren gab es außerdem in Duisburg, Essen, Recklinghausen und Mülheim. Überall schlossen sich große Teile der Bevölkerung den Aktionen an. Allein in Rheinhausen versammelten sich 50.000 Menschen. Das war mehr als eine Demonstration für den Erhalt von Arbeitsplätzen;das war auch eine Demonstration der Macht der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer. So war nachvollziehbar, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung von "generalstreikähnlichen Zuständen" schrieb und Friedhelm Farthmann, Fraktionvorsitzender der im Düsseldorfer Landtag mit absoluter Mehrheit regierenden SPD, sich an vorrevolutionäre Zustände erinnert fühlte.

Spaltungen

Der 10. Dezember 1987 war zweifellos Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Erhaltung des Rheinhausener Krupp-Werkes. Doch schon im Januar häuften sich die Anzeichen, dass Spaltungsversuche griffen. In den anderen Belegschaften machten Vorwürfe die Runde, die Rheinhausener würden mit ihren Aktionen andere Arbeitsplätze gefährden. Genährt wurden Behauptungen durch die Regionalpresse, die Schaden für den Industriestandort beschwor und den Rheinhausenern Mangel an Realismus unterstellte. Wolfgang Kolditz, damals Vertrauensmann der IG Metall, fuhr mit seinen Rheinhausener Kollegen nach Bochum, um die Kollegen dort in die Solidarität einzubinden - vergeblich: "Es war das schrecklichste Erlebnis, das ich je hatte. Es war niemand am Tor. Es gab keine gemeinsame Aktion. Es war niemand da, der die Kollegen motiviert hätte. Man hat den Leuten gesagt: Da kommen die Chaoten aus Rheinhausen ..."

Wolfgang Kolditz gehört zu denjenigen, die der IG Metall noch heute mangelnde Konsequenz bei der Mobilisierung aller Stahlarbeiter vorwerfen. Klaus Löllgen kann sich seiner Kritik nur zum Teil anschließen. Die IG Metall sei immer vor Ort gewesen und der 10. Dezember natürlich über die IG Metall und den DGB organisiert worden. In einer solchen Auseinandersetzung werfe es allerdings ein schlechtes Licht auf die Gewerkschaft, "wenn der Vorsitzende der IG Metall - damals Franz Steinkühler - nicht sofort da ist." Steinkühler kam erst, nachdem in Rheinhausen bereits 14 Tage die Hölle los war. Das hatte, so Löllgen, natürlich Unmut bei den Kollegen provoziert. Außerdem sei "der eine oder andere Spitzenfunktionär der IG Metall auch heilfroh gewesen, wenn er nicht kommen musste".

Möglicherweise fühlte sich Steinkühler einer Vereinbarung, die er im Sommer 1987 mit dem Unternehmerverband abgeschlossen hatte, auch mehr verpflichtet als den Forderungen der Stahlarbeiter. Darin wurde unter der Voraussetzung, dass die Unternehmen auf Kündigungen verzichten und auf ihr Versprechen hin, Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, die gewerkschaftliche Zusammenarbeit beim Abbau Tausender von Arbeitsplätzen in Aussicht gestellt. In ein solches Konzept passte der Rheinhausener Widerstand nicht.

Das Ende der Hoffnung

Bis in den Frühling 1988 zog sich der Arbeitskampf. Die Produktion wurde schicht- und tageweise stillgelegt, immer wieder waren Zehntausende in Rheinhausen und im Ruhrgebiet auf den Beinen. Aber "je länger ein Arbeitskampf dauert" , so Klaus Löllgen, "desto mehr schwindet die Hoffnung." Noch einmal ging eine Welle der Entrüstung durch die Belegschaft, als am 9. April 1988 der Mitschnitt eines per Autotelefon geführten Gesprächs bekannt wurde, in dem Krupp-Stahl-Vorstand Cromme erklärte, SPD-Politiker hätten sich für eine möglichst rasche Schließung der Rheinhausener Hütte ausgesprochen, damit das Thema endlich vom Tisch komme. Noch einmal zog die Belegschaft alle Register, legte die Arbeit nieder, besetzte die Düsseldorfer Rheinkniebrücke und bezog Mahnwache vor dem Düsseldorfer Landesparlament.

Unter diesem Druck erklärte sich Ministerpräsident Rau zur Vermittlung zwischen Unternehmensleitung und Belegschaftsvertretern bereit, unter der Bedingung, dass sich die Belegschaft, die sich seit sechs Tagen in einem mittlerweile unbefristeten Streik befand, die Arbeit wieder aufnehme. "Wir waren zu diesem Zeitpunkt etliche Wochen im Arbeitskampf gewesen. Das ist nicht ohne", erklärt Klaus Löllgen diese Entscheidung im Rückblick. "Eins durfte uns nicht passieren: Dass der Streik sich von selbst auflöst." Deshalb habe der Streik beendet werden müssen.

Möglicherweise hat die Wiederaufnahme der Arbeit auch das am 3. Mai 1988 verkündete Vermittlungsergebnis begünstigt, das allem Widerstand zum Trotz auf die Schließung der Hütte zielte. So jedenfalls sieht es Wolfgang Kolditz: "Die Fortsetzung des unbefristeten Streiks wäre die realistische Möglichkeit zur Erhaltung des Werkes gewesen."

Tatsache ist, dass sich gegen das Vermittlungsergebnis nach 160 Tagen harten, das ganze Ruhrgebiet aufwühlenden Kampfes kein Widerstand mehr regte. Der Betriebsrat nahm es zur Kenntnis, ohne ihm zuzustimmen und erklärte gegenüber der Belegschaft: "Wir akzeptieren nicht die Stilllegung der Hütte, aber eine Verlängerung unseres Kampfes hat keine Perspektive."

Rheinhausen: Zwei Jahrzehnte später

Heute erinnert in Rheinhausen fast nichts mehr an den Arbeitskampf. Die Belegschaft von Krupp Rheinhausen wurde nach und nach in andere Stahlbetriebe der Region umgesetzt, die Hütte 1993 endgültig stillgelegt und sukzessive abgerissen. An ihrer Stelle ist ein Logistik-Zentrum (Logport) errichtet worden, in dem heute unter anderem Container umgeschlagen werden; 2.500 Beschäftigte arbeiten hier. Rheinhausen hat eine verhältnismäßig niedrige Arbeitslosenquote von zuletzt 8,7 Prozent (Duisburg 13,4 Prozent) und weist nicht die Konzentration sozialer Probleme auf wie andere Viertel Duisburgs und des Ruhrgebiets. Sind damit die Visionen einer sterbenden Stadt und Region, wie sie vor 20 Jahren die Menschen bewegten, widerlegt?

Der spektakuläre Zusammenbruch blieb tatsächlich aus. Stattdessen ist Rheinhausen Schauplatz eines schleichenden Niedergangs, der typisch auch für andere ehemalige Stahlstandorte ist. Deutlich wird er, wenn man die auf dem alten Krupp-Gelände neu angesiedelten Arbeitsplätze genauer unter die Lupe nimmt. Wo früher bei Krupp ein gerade ausgelernter Facharbeiter mit etwa 15 Euro pro Stunde in seinen Beruf einstieg, die Zuschläge für Schichtarbeit und anderes nicht mitgerechnet, so beläuft sich der Spitzenlohn in tarifgebundenen Betrieben der Logistik auf knapp 11 Euro. Den dürften aber nur wenige im Logport erhalten. Etwa die Hälfte der Betriebe dort unterliegt keinem Tarif. Wo früher bei Krupp jeder Beschäftigte durch den kollektiven Tarifvertrag geschützt war, greift im Speditions- und Logistikgewerbe Leiharbeit um sich. Wo früher bei Krupp eine zu 95 Prozent in der IG Metall organisierte Belegschaft ein Machtfaktor war, herrscht im Logport bei einem Organisationsgrad von 15 bis maximal 20 Prozent Zersplitterung. Von lediglich drei der 40 neuen Unternehmen auf dem ehemaligen Krupp-Gelände ist bekannt, dass dort Betriebsräte gewählt worden sind. Unter dem Strich gilt: Was an Arbeitsplätzen beim Stahl verloren ging, ist weder der Zahl, noch der Qualität nach auch nur annähernd ersetzt worden. Das macht sich bemerkbar, etwa in der sinkenden Kaufkraft oder bei den Jugendlichen, die keine Arbeit finden.

Hat sich der Arbeitskampf, der vor 20 Jahren das Ruhrgebiet erschütterte, also nicht gelohnt? Wolfgang Kolditz meint, dass es ohne die 160 Tage von Rheinhausen die sehr gute materielle Absicherung der einzelnen Krupp-Kollegen nicht gegeben hätte. Und Klaus Löllgen ist sich sicher, dass ohne diese Auseinandersetzung - trotz ihres bitteren Endes und aller berechtigten Kritik an der weiteren Entwicklung - für die Beschäftigten, für die Stadt und die Region nicht so viel herausgeholt worden wäre: "Nach Duisburg ist im Endeffekt eine Milliarde an Strukturmitteln geflossen. Die hätte die Region ohne den Arbeitskampf nie gesehen."

Als Ergebnis eines Konzentrationsprozesses wird heute in der Stahlindustrie mit gegenüber 1970 um 76 Prozent reduzierten Belegschaften so viel Stahl produziert, werden so hohe Erträge erwirtschaftet wie nie. Vor diesem Hintergrund widerspricht Klaus Löllgen allen, die meinen, ein Arbeitskampf wie damals in Rheinhausen sei nicht mehr möglich: "Heute werden enorme Gewinne gemacht. Die Vorstände stopfen sich ohne Ende die Taschen voll. Wenn dann jemand kommt und sagt, es müsse ein Werk geschlossen werden, damit noch mehr Geld an die Aktionäre geht, dann kann sehr schnell wieder eine explosive Stimmung entstehen."

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