Vorwärts zur Vollbeschäftigung

VOR DEM EU-GIPFEL IN LISSABON (I) Dem westeuropäischen Arbeitsmarkt steht eine "Revolution von oben" in Aussicht

Wichtige Entscheidungen, von denen die Öffentlichkeit kaum Notiz nimmt, werfen ihre Schatten voraus. Unter dem Motto "Beschäftigung, Wirtschaftsreformen, und sozialer Zusammenhalt - auf dem Weg zu einem Europa der Innovation und des Wissens" soll am 23. und 24. März in Lissabon ein EU-Gipfel über die Bühne gehen, von dem bedeutsame Weichenstellungen erwartet werden. Die Frage ist nur, worin sie bestehen und wie man sie bewertet. André Brie und Klaus Dräger analysieren im nachfolgenden Beitrag den aktuellen Stand der Debatte innerhalb der Union. Der zweite Teil ihres Textes wird sich im nächsten Freitag mit Alternativen zu den sich abzeichnenden arbeitsmarktpolitischen Optionen der EU befassen.

In ihrem Vorbereitungsdokument für den Gipfel schlägt Portugals Regierung vor, "die Bedingungen für Vollbeschäftigung wiederzugewinnen", die Bedürfnissen der entstehenden "Wissensgesellschaft" entsprechen. Die Europäische Kommission stößt in ihrem neuen Strategiedokument für 2000 - 2005 ins gleiche Horn: Vollbeschäftigung als neues Ziel der europäischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Der einstige französische Premier Michel Rocard sekundiert: die Mitgliedstaaten sollten "Vollbeschäftigung für die Union fördern und die Grundzüge der Wirtschaftspolitik in Einklang mit diesem Ziel festlegen." Er moniert, die Koordination der Wirtschafts- und Währungspolitik wie der Beschäftigungspolitik in Europa sei zu wenig ambitioniert, zu wenig transparent, nicht effektiv genug.

Rocards Vorstoß lässt vermuten, dass Frankreichs Ratspräsidentschaft ab Juli 2000 Portugals Steilvorlage in Sachen Vollbeschäftigung aufgreift, um sie unter ihrer Ägide zum Torschuss zu verwandeln. Schließlich nutzt Lionel Jospin jede Gelegenheit, die sozialdemokratischen Werte Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Vollbeschäftigung variantenreich als Leitziele europäischer Politik zu beschwören. Kommt nun die heiß ersehnte Wende zur "Sozialdemokratie pur" in Europa - nach zwei Jahren harter Haushaltskürzungen für einen "stabilen Euro" und einer zahnlosen, unverbindlichen europäischen Beschäftigungspolitik in der Tradition Helmut Kohls? Hat der "Haider-Schock" Europas Mitte-Links-Regierungen so aufgerüttelt, dass sie offensiv für die Renaissance eines "sozialen Europa", einer "Europäischen Wirtschaftsregierung" und einer "Europäischen Beschäftigungsunion" in der Tradition eines Jacques Delors streiten wollen?

Vorbild "New Economy"

"Lesen Sie das Kleingedruckte, bevor Sie unterschreiben", möchte man warnen. Was versteht die "neue Sozialdemokratie" unter Vollbeschäftigung ? Mit welchen Mitteln will sie die herbeiführen? Die portugiesische Regierung hat offenbar das Vorbild der USA im Sinn: die EU soll zur wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt aufsteigen, mit einer dynamischen Kultur des Unternehmertums. Diese Melodie kommt bekannt vor: Schon die Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen forderte eine "neue Kultur der Selbständigkeit", ebenso wie die Schröder-Thesen vom Herbst 1997. Ihr Credo: Werde unternehmerische Tatkraft auf allen Feldern ermutigt, so könne auch Europa den Sprung in die New Economy nach dem Vorbild der USA schaffen - mit hohen Wachstumsraten und niedriger Arbeitslosigkeit. Voraussetzung sei ein europäischer Aufholprozess beim gewaltigen technologischen Fortschritt in den Leitsektoren der Informationstechnologie, hohe Effizienz auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten und eine äußerst wettbewerbsfähige, von Regulierungen befreite Marktstruktur.

Die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft und die Europäische Kommission fordern einen policy mix entlang dieser Zielrichtung, der auf mehreren Säulen aufbaut. Die erste heißt beschleunigte Innovation: High Tech-Förderung in den traditionellen Branchen wie Automobilindustrie, Maschinenbau, Chemie, verbunden mit einer Stärkung der Gentechnologie und neuen Wachstumsfeldern in der Nanotechnologie. Der Hauptakzent liegt derzeit auf dem Aufbau einer europäischen Internetökonomie: das zielt auf Förderung eines breiten Computerwissens, lebenslanges Lernen und hochflexible, dynamische Unternehmensstrukturen. Im Zentrum steht die Initiative e-Europe, mit der die Kommission eine markt- und technikgetriebene Cyberspace-Ökonomie etablieren will.

Die zweite Säule bilden Strukturreformen im Europäischen Binnenmarkt: ein gewaltiger Ausbau der EU-Finanzmärkte besonders durch neue Finanzdienstleistungen, eine Liberalisierung des elektronischen Handels (e-Commerce), eine gestärkte Börsenkapitalisierung europäischer Unternehmen. Die vorgeschlagenen "Strukturreformen" folgen dem bekannten Muster der Liberalisierung und Deregulierung, die zuvor etwa in der Telekommunikationsbranche, bei Post und Bahn sowie mit dem Energiebinnenmarkt durchgesetzt wurden. Dies soll zu einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von mindestens drei Prozent führen und dauerhaft Arbeitsplätze schaffen. Die dritte Säule besteht in der Schließung der angeblichen "Dienstleistungslücke" gegenüber den USA.

Auffallend ist die Ambivalenz der europäische Position. Einerseits wird betont, die "Wissensgesellschaft" erfordere qualifizierte Dienstleistungsarbeitsplätze (wie die dafür nötige Qualifizierungsoffensive finanziert werden soll, bleibt unklar). Andererseits bezeichnet die Kommission Tony Blairs New Deal-Programme, die auf Arbeitszwang und Billigjobs beruhen, als positives Beispiel für Europa. Dabei wird die europäische "Beschäftigungspolitik" insgesamt als Querschnittsaufgabe angelegt. Sie soll das Unternehmertum in den Wachstumsbereichen fördern, Anpassung an den Strukturwandel beschleunigen, "Beschäftigungsfähigkeit" der Modernisierungsverlierer wieder herstellen und durch eine "aktivierende Arbeitsmarktpolitik" mit Zuckerbrot und Peitsche (Kürzung staatlicher Unterstützung) dem Dienstleistungssektor vor allem im Niedriglohnbereich neue Arbeitskräfte zuführen.

Säule Nummer vier bildet die gesamtwirtschaftliche "Stabilitätspolitik" für den Euro: die Inflationsrate in Euroland darf nur zwischen null und zwei Prozent schwanken, der Sparkurs in der Haushaltspolitik wird fortgesetzt.

Die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament trägt diesen Kurs, wie er bisher beschrieben wurde, in Gänze mit, sie merkt lediglich an, die europäische Beschäftigungspolitik solle den Ausbau des "Dritten Sektors" stärker fördern und lässt offen, ob es um qualifizierte, tarif- und sozialrechtlich gesicherte Arbeitsplätze in der Sozial- und Kulturwirtschaft, im Umweltschutz und in der Stadterneuerung geht oder der Non-Profit-Bereich künftig zu einer Unterabteilung des angestrebten Niedriglohnsektors mutieren soll.

Soweit gibt es wenig Neues unter der Sonne Europas. Das "Reformpaket" der Mitte-Links-Regierungen kann nicht verdeutlichen, warum eine Neuauflage der Politik der Vergangenheit - Bangemann-Initiative zur "Informationsrevolution", Liberalisierung des Binnenmarkts und Entfesselung der Finanzmärkte, rigide Geldpolitik, harter Sparkurs bei den öffentlichen Finanzen - nun wundersamerweise zur "Vollbeschäftigung" führen sollte. Schließlich war in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten das Gegenteil der Fall.

Leitbild "Arbeitshaus"

Neu ist die fünfte Säule: die Modernisierung der Sozialsysteme, basierend auf Vorschlägen der Kommission von 1997. Diese Modernisierung ist das bisher noch fehlende Gegenstück zum "Reformkurs" in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Den Sozialschutz in der EU an die Erfordernisse der Globalisierung und der neu entstehenden "Wissensgesellschaft" anpassen, lautet die Devise. Abkehr vom Modell des "männlichen Familienernährers" durch die Individualisierung des Sozialversicherungsschutzes und der Steuersysteme, Kostensenkung und Qualitätsverbesserung im Gesundheitswesen bei gleichzeitiger Einführung wettbewerblicher Elemente im Gesundheitsschutz, "Entlastung" der gesetzlichen Rentenversicherung durch den Aufbau europaweit operierender Betriebsrentensysteme und Pensionsfonds. Integration der sozial Ausgegrenzten durch eine neue Balance zwischen sozialen Rechten der Einzelnen und Pflichten gegenüber der Gesellschaft ("Fördern und Fordern"). So lauten die Stichworte. Ob es sinnvoll ist, die kapitalgedeckte Altersvorsorge massiv auszubauen, wird von Europas Sozialdemokraten und Grünen eher positiv bewertet. Die übrige Linke nimmt dazu eine skeptische bis ablehnende Haltung ein. Insgesamt spielen die Philosophie des US-amerikanischen Welfare to work und der Übergang zu einer individualisierten, kapitalgedeckten Altersvorsorge auch die Leitmelodie zu dieser "Modernisierung" des Europäischen Sozialmodells.

Besonders augenfällig ist der vorgeschlagene Kurswechsel in der Alterssicherung. Angesichts der demographischen Entwicklung mit einem stetig wachsendem Anteil alter Menschen an der Bevölkerung soll die bisherige Politik der Frühverrentung gestoppt werden. Andernfalls komme es etwa ab 2015 zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, weil dann zu wenig junge Menschen in die Erwerbsarbeit nachrücken. Die Belastung für die Altersversorgungssysteme werde untragbar. Notwendig sei eine "aktive Altenpolitik", die ältere Erwerbstätige zumindest bis zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters von 65 Jahren in Arbeit hält - wenn nötig auch darüber hinaus. Flexible Altersteilzeit und verstärkte Weiterbildung für ältere ArbeitnehmerInnen bilden den Kern dieser Politik. Älteren Menschen, für die das angestammte Unternehmen keine Verwendung mehr hat, sollen Alternativen angeboten werden: Kurzfristige Beschäftigung im "Dritten Sektor", neue Selbständigkeit, Zeitverträge, Leiharbeit, Teilzeitarbeit im Dienstleistungssektor. Der große Hit ist die Einbindung älterer Erwerbspersonen in gemeinnützige Gemeindearbeit: " ... den Dienstleistungsempfängern bringt es Vorteile, die älteren Menschen (...) werden durch die neuen Kontakte geistig und mental angeregt ..., schließlich können kommunale Dienstleistungen sehr kostengünstig erbracht werden, heißt es in einer "Mitteilung der Kommission". Auch hier sollen "Anreizsysteme" dafür sorgen, dass ältere Erwerbspersonen diese gütigen Angebote von Billigjobs und prekärer Beschäftigung nicht einfach ablehnen können.

André Brie ist derzeit Europa-Abgeordneter der PDS in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordisch-Grüne Linke; Klaus Dräger ist Mitarbeiter dieser Fraktion.


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