Es ist das Schicksal jedes zu rezensierenden Buches, in eine Art Untersuchungshaft zu geraten im Kopf des Rezensenten. Der Prozessgegenstand ist zu klären bei Bernhard Schlinks neuem Prosaband: Flucht aus der Liebe? In die Liebe? Oder ist es die Liebe selbst, die, Subjekt des Geschehens, sich verflüchtigt in den sieben Erzählungen? Das Wort Flucht bezeichnet in der deutschen Sprache nicht nur das Entkommen, Weglaufen, sondern auch eine Linie, eine Reihe. Ein neu zu bauendes Haus beispielsweise hat sich in die Flucht der schon vorhandenen einzuordnen, damit eine schöne gerade (Deutsch-)Straße entsteht. Denke ich "Flucht" in eben genannter Art, scheint der Titel sich gut zu erklären: Gerade, Aufriss, Abriss. Denn ein bisschen wie vom Reißbrett gerutscht ers
erscheinen die hier versammelten Texte schon. Nicht, dass sie schlecht zu lesen wären, nein, sie sind eher "gut" zu lesen, zu gut und zu simpel für all das Gewicht, mit dem sie sich unterfüttern wollen, ohne es wirklich vom Fleck bewegen zu können. Wie mag das kommen?Bernhard Schlink erzählt klar und prägnant, scheint sich der Wirkung seiner Mittel sehr wohl bewusst zu sein und vermag sie zielgenau einzusetzen. Das Mittel für (nicht zu unterschätzende) Lesefreude ist Geradlinigkeit der Story, die dem Autor des weltweit erfolgreichen Vorlesers unzweifelhaft eine Menge Nach-Leser zwischen die Buchdeckel treibt. Die Gegenstände tragen passende, resümierende Namen (Der Sohn, Der Seitensprung), fallen nicht aus den ihnen zugedachten Rahmen, entwickeln sich verständnisfreundlich. Nichts franst aus. Kleine Rätselhaftigkeiten am Rande inszenieren nie Ratlosigkeit, sondern bestäuben die Texte zuweilen mit einer melancholischen Blässe, die angenehm ist, weil nicht die eigene.Schlink hält es dabei mit dem, was man von ihm erwarten kann: Individuelle Entwürfe von Liebe werden zwischen gesellschaftlichen Koordinaten verankert, werden dem als verbindlich erlebten Verständnis von "historischem Kontext" zuweilen in jener Weise unterworfen, in der man einen Feind unterwirft: Man treibt ihn in die Niederlage, besiegt ihn. Ach, es ist ja vermutlich wirklich so, dass einer Verbindung zwischen einer jüdischen Amerikanerin und einem deutschen Studenten gerade in der wechselseitigen Gutwilligkeit der Beteiligten, einander "trotz allem" zu lieben, kein Entkommen aus dem Katastrophenverhältnis ihrer Vorfahren beschieden sein mag (Die Beschneidung). Mehr als gut vorstellbar auch das Erleben eines Nachkriegskindes, das noch dazu das Kind eines an "Arisierungsprozessen" beteiligten deutschen Juristen ist, beim über das ganze Leben getragenen, naiven Bloßlegen der elterlichen Schuld: Das Mädchen mit der Eidechse erzählt noch einmal, was (uns) schon so viele Male erzählt wurde. Aber gerade der Bekanntheitseffekt, der, zumindest bei der Rezensentin, während des Lesens in einen regelrechten Ermüdungsaffekt mündet, bringt wohl zu einem Teil den korrekten Applaus zuwege, der diesen korrekten Geschichten schon kurz nach ihrem Erscheinen beschieden ist. Und in den ich für den Moment durchaus einstimmen mag: Sie bezeugen solide Handwerksarbeit, von Sach- und Menschenkenntnis getragen, moralisch "in Ordnung" und von uneitlem Gebaren, dem es auch an Humor nicht fehlt.Womit wir beim zweiten Mittel wären, dem gegen das Ertapptsein: Die Texte haben, doch!, etwas Kabarettistisches, indem sie es dem Rezipienten verwehren, sich gemeint zu fühlen. Man bleibt merkwürdig "rein", während man Schlink liest. Der forsche 68er in Zuckererbsen, den seine Bindungsunfähigkeit in einige Parallelverhältnisse treibt, und der nach einem folgenreichen Unfall in die Lage gerät, sich von den unterdessen miteinander verbündeten Haupt- und Nebenfrauen aushalten lassen zu müssen, ist uns mit mancher Welle der neueren Filmkomödie schon unter die Nase gespült worden. Oder Der Andere: ein Mann entdeckt nach dem Tod seiner Frau, kurz nach seiner Pensionierung, aus der Lektüre eingehender Briefe, dass die Tote einen Geliebten gehabt haben muss. Er antwortet dem unbekannten Mann, indem er sich in Antwortbriefen als seine Frau ausgibt, lernt den Unbekannten kennen usw. ... Etwa nicht Neue Deutsche Komödie??? Wir mögen das gern.Das hat alles mit mit Freud und Vergessen, mit Fernweh und Heimsuchung, mit Geschichte und Verdrängung zu tun, nicht aber mit Autor oder LeserIn. Durch die unterschwellige Präsenz des Plädoyers, durch blind gelingendes Fremdmoralisieren einer Erzählinstanz, gerät der Leser, die Leserin unweigerlich in die Rolle der zum Prozess zugelassenen Öffentlichkeit. Und der Richter ist gut ...! Nur - die Delinquenten sind so allegorisch besetzt, dass ihre behauptete Individualität eine vermeintliche wird: Zu eng ist der Radius, als dass die Norm als eigentliche Abweichung kenntlich werden könnte.Das dritte Mittel, von dem die Rede sein kann, ist das gegen vorzeitigen Lidschluss. Als solches betrachte ich den originellen Text Die Frau an der Tankstelle. Worum es hier geht, verrate ich nicht. So etwas lese ich nämlich ganz gern. Wenn zum Beispiel Anlass besteht, die eigene Lebens- und Beziehungsführung zu hinterfragen. Wenn man noch nie in Amerika war - wie ich - und sich vorstellen möchte, dort ver-rückt zu werden. Aber: ich müsste im Zug fahren und probieren, ob der Text eine Chance hat, meine Lust auf ausschließliche Beobachtung des Passagier- und Begleitpersonals zu dämpfen, indem er mich fesselt. (Ich gebe es zu: ich werde gern von Unterhaltungsliteratur missbraucht.) Dieser Beweis steht aber derzeit noch aus. Weshalb ich mich entschließe, mich über die Tatsache meines milden Urteils zu freuen: Die Haft des Buches in meinem Gedächtnis wird nicht zu lange dauern.Bernhard Schlink: Liebesfluchten. Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2000, 307 S., 39,90 DM
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.