Zwei Jungen, beide in rot-schwarz gestreiftem Pulli, sitzen Arm in Arm an einem Ufer und schauen aufs Wasser. Darüber weht eine Bremen-Flagge. In der Mitte dieser CDU-Werbepostkarte zur Bürgerschaftswahl am 25. Mai steht (in alter Rechtschreibung) die Parole: "Wer Scherf will, muß CDU wählen." Ist Bürgermeister Henning Scherf nicht mehr Spitzenkandidat der SPD, sondern zum Koalitionspartner übergewechselt? Zuzutrauen wäre es ihm. Wenn er bei Kandidaten-Anhörungen auftritt, bringt er es fertig, kein einziges Mal seine Partei zu erwähnen. Die SPD hat jetzt extra rote Plakate mit einer Wahl-Gebrauchsanleitung aufgestellt: "Henning wählt man so", steht dort über einem angekreuzten SPD-Emblem.
Ist der CDU-Spruch über Scherf nur eine gem
r eine gemeine Fälschung? Nein, die Union wirbt tatsächlich mit dem Spitzenmann der Konkurrenz. Sie will von Scherfs enormer Beliebtheit profitieren und nutzt zugleich die Tatsache aus, dass sich die Sozialdemokraten nicht eindeutig auf die Fortsetzung der Großen Koalition festlegen, während die Union definitiv weitermachen will.Ginge es nur nach Scherf und nicht auch nach seiner Partei, dann würde er unbedingt mit seinem Stellvertreter, Finanzsenator Hartmut Perschau, weiterkuscheln. Die beiden sitzen zwar nicht mit rot-schwarzen Ringelpullis träumend am Weserufer, aber in vielen Politikfeldern erwecken sie den Eindruck, Zwillinge im Geiste zu sein. Beide loben die Haushaltssanierungspolitik des seit acht Jahren regierenden Bündnisses in den höchsten Tönen, als ob sich die Hansestadt mittlerweile zum bundesweiten Vorbild entwickelt hätte. Zwar kann die Koalition durchaus Pluspunkte vorweisen: Das Wirtschaftswachstum liegt seit drei Jahren leicht über dem Bundesdurchschnitt; auf dem Gelände der untergegangenen Vulkan-Werft sind in diversen Kleinbetrieben fast wieder so viele Arbeitsplätze entstanden wie einst im Schiffbau, teilweise allerdings nur durch Betriebsverlagerungen; das Gewerbegebiet "Technologiepark" rund um die Universität boomt; und sogar die jahrelang gesunkene Einwohnerzahl steigt wieder an.Aber neben solchen Lichtblicken gibt es auch viel Schatten. Der Zwei-Städte-Staat aus Bremen und Bremerhaven ist immer noch das Bundesland mit der höchsten Arbeitslosenquote Westdeutschlands (13,5 Prozent). Bremerhaven liegt mit 17,8 Prozent sogar auf Ost-Niveau. Trotz insgesamt 8,5 Milliarden Euro Sanierungsbeihilfen, die der Bund seit 1994 und noch bis 2004 an das Haushaltsnotlageland ausschüttet, ist der Schuldenberg nicht geschrumpft, sondern weiter angewachsen - auf rund zehn Milliarden Euro. Dreistellige Millionenbeträge wurden in überflüssige oder dilettantisch ausgeführte Großprojekte versenkt. Jeder Bremer Stammtisch kennt mindestens zwei Beispiele: das gescheiterte neue Musicaltheater und das überdimensionierte Freizeit- und Einkaufszentrum Space Park, dessen Eröffnung schon mehrfach verschoben wurde, weil sich nicht genügend Geschäfte dort einmieten wollen.Die Koalition benimmt sich so ähnlich wie das Orchester auf der Titanic: Hauptsache, gute Laune verbreiten - egal, wie ernst die Lage ist. "Das Bremische Jammern gehört Gott sei Dank der Vergangenheit an. Man blickt fröhlich nach vorne", umschreibt Wirtschaftssenator Josef Hattig (CDU) den Erfolg dieser Strategie. Dass die reale Lage schlechter ist als die Stimmung, bekommen vor allem die Schulen, Büchereien und Jugendzentren zu spüren, die in den vergangenen Jahren unter der Sparpolitik des Senats zu leiden hatten. Dank des "PISA"-Schocks - Bremen war bei dem Vergleichstest Schlusslicht - fließen jetzt zwar ein paar zusätzliche Gelder in die Bildung, aber insgesamt soll auch weiter das Motto gelten: Bei "konsumtiven Ausgaben" wird bis jenseits der Schmerzgrenze gespart, während alles, was irgendwie im Entferntesten die Wirtschafts- und Finanzkraft Bremens stärken könnte, großzügig mit Investitionsmitteln bedacht wird."Das sind unsere Großprojekte: Kinder und Jugendliche", halten die Bündnisgrünen dieser Politik entgegen, ohne den Sanierungskurs grundsätzlich in Frage zu stellen. Sie fordern beitragsfreie Kindergärten, außerdem eine Grundschule bis einschließlich Klasse 6. Zumindest das wäre auch in der SPD mehrheitsfähig. Überhaupt würden viele Genossen lieber mit den Grünen als weiter mit den Schwarzen koalieren. Gegen Scherfs Willen Rot-Grün zu fordern, traut sich jedoch kein Genosse. Als Politiker zum Anfassen und "Oma-Knutscher" genießt er eine unglaubliche Popularität. Dass Henning Scherf einst die linken Sandinisten in Nikaragua beim Kaffeepflücken unterstützte, das US-Raketendepot in Mutlangen blockierte und bis 1995 noch Rot-Grün-Anhänger war, merkt man dem 64-Jährigen nicht mehr an. Dass man seine freundlichen Worte nicht immer auf die Goldwaage legen darf und dass er gegenüber Kritikern manchmal ausfallend wird, wissen die wenigsten Wählerinnen und Wähler. Deshalb würde er laut Meinungsumfragen rund zwei Drittel der Stimmen bekommen, wenn er direkt gewählt werden könnte.Dieser Scherf-Bonus lässt die Bremer Sozialdemokraten hoffen, dass sie am 25. Mai den Abwärtstrend von Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein stoppen können. Nur noch der Schröder-Malus könnte das verhindern. Deshalb hat die Bremer SPD den Kanzler lieber weitgehend vor den Wählern versteckt: Er durfte nur mal kurz zu Betriebsbesuchen vorbeischauen, aber um Himmels Willen keine Rede auf dem Marktplatz halten.Den letzten Umfragen zufolge gibt es am Sonntag ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Wenn die SPD knapp gewinnt, wird sich Scherf wohl ohne großen Widerstand damit durchsetzen, dass die große Koalition in die dritte Runde geht. Sollte allerdings die CDU erstmals stärkste Kraft werden, will der Bürgermeister zurücktreten, und die Union hätte sich, auch wenn es absurd klingt, "in die Opposition gesiegt" (Scherf). Denn die SPD würde sich nach über 56 Jahren Abonnement auf den Chefsessel sicher nicht damit abfinden, nur noch den Juniorpartner unter einem CDU-Bürgermeister zu spielen, sondern sich dann lieber mit den Grünen verbünden. "Wer Scherf will, muß CDU wählen". Da haben die Unionsstrategen offenbar nicht zu Ende gedacht. Der Spruch müsste wohl eher heißen: "Wer Rot-Grün will, muß CDU wählen". Und die FDP? Fast wie eine Splitterpartei war sie bei den letzten beiden Wahlen mit 3,4 und 2,5 Prozent unter die Sperrhürde gerutscht. Jetzt träumt sie von mindestens acht Prozent (immerhin nicht mehr von 18) und möchte die CDU für ein schwarz-gelbes Bündnis gewinnen. Doch die Union glaubt nicht daran, dass ihr gemeinsam mit den Freidemokraten im traditionell rötlichen Bremen ein Machtwechsel gelingen könnte.An der Fünf-Prozent-Hürde strampelt sich auch die PDS ab. Trotz der Streitigkeiten in der Bundespartei hofft sie, zumindest in der Stadt Bremen die Sperrklausel zu überwinden, wenn auch nicht in Bremerhaven. Für den Sprung ins Landesparlament würde es reichen, in nur einer der beiden Städte fünf Prozent zu erkämpfen. 1999 lag die PDS in der Stadt Bremen immerhin bei 3,1 Prozent, und der rot-grüne Sozialabbau treibt ihr jetzt vielleicht weitere Wählerinnen und Wähler zu.Vielleicht profitiert aber auch die Rechte vom "Agenda"-Verdruss. Die Schill-Partei tritt erstmals in Bremen an und phantasiert von elf Prozent. Ein Comeback strebt auch die Deutsche Partei an, die einst von 1949 bis 1960 im Adenauer-Kabinett saß und von 1955 bis 1959 den niedersächsischen Ministerpräsidenten Heinrich Hellwege stellte. Inzwischen wird sie wegen des Verdachts des Rechtsextremismus vom Verfassungsschutz beobachtet. Bessere Wahlchancen hat wohl die DVU. Sie ist seit 1987 mit mindestens einem Abgeordneten in der Bürgerschaft vertreten, weil sie in Bremerhaven stets die Sperrklausel meistern konnte. Zur Zeit vertritt sie ein gewisser Siegfried Tittmann. Sein Wahlslogan: "Ein Mann. Ein Wort. Ein Tittmann."
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