Wahnsinnig violett

Bündig Jahre lang hatte Hubert auf dem Nachbargrundstück nichts gehört, weshalb ihn der Lärm, der eines Spätnachmittags von dort kam, ziemlich erschreckte. ...

Jahre lang hatte Hubert auf dem Nachbargrundstück nichts gehört, weshalb ihn der Lärm, der eines Spätnachmittags von dort kam, ziemlich erschreckte. Zwei Männer rissen den brüchigen Holzzaun ein. Ein Unbekannter ging das Grundstück ab. Zwei Tage später wurde Hubert am Samstag gegen sieben Uhr aus dem Tiefschlaf gerissen. Ein Bagger hob nebenan lärmend eine Grube aus. In der Folge wurde jeden regenfreien Abend für die Grubenverschalung gesägt und gehämmert. Nach zehn Tagen ging Hubert der abendliche Lärm auf die Nerven. Konnte der neue Grundstückseigentümer nicht, wie andere auch, sein Haus untertags bauen, wenn Hubert nicht hier war?

Hubert ging hinüber. "Wer ist der Eigentümer des Grundstücks?", fragte er den Arbeiter. "Herr Berger ist nicht hier", sagte der Typ. "Und was machen Sie hier? Sind sie von einer Baufirma?", fragte Hubert. "Nein, ich helfe nur aus. Ich bin ein Freund von Herrn Berger." Und wer sind die anderen beiden Leute dort?", wollte Hubert nun wissen. "Der eine ist auch ein Freund, der andere auch, glaube ich." Und warum arbeiten Sie nur abends und am Samstag?", fragte Hubert leicht genervt. "Weil wir tagsüber auch arbeiten, wie Sie vermutlich!", sagte der Mann, ließ Hubert stehen und begab sich wieder an seine Arbeit.

Am nächsten Morgen rief Hubert sofort das Gewerbeaufsichtsamt an, das ihm etwas über Dezibelwerte erzählte, die er natürlich durch ein Gutachten nachweisen müsse, wenn er glaube, der Lärm sei zu laut. Wenn er allerdings der Meinung sei, hier liege Schwarzarbeit vor, so wäre es sinnvoll, genau über Zeit und Tätigkeit Buch zu führen und auch die Namen der Arbeiter, falls möglich, herauszufinden. Dann hätte man die Möglichkeit, der Sache nachzugehen. Gegen Freundschaftsdienste sei allerdings nichts zu machen, zumal, wenn sie nach Schluss der üblichen Arbeitszeiten stattfänden. So sehr sich Hubert in den Folgemonaten auch bemühte, etwas herauszufinden und auch Herrn Berger darauf ansprach, er hatte keinen Erfolg.

Als das Haus fast fertig war hörte Hubert eines Spätnachmittags von nebenan Herrn Bergers laute Stimme: "Ich lasse die Farbe jetzt mischen und spät am Abend die Eimer noch zum Bau bringen. Dann könnt ihr morgen Nachmittag mit dem Außenanstrich beginnen. Ihr braucht nur noch streichen und seid sicher bis zum Abend fertig. So groß ist das Haus ja nicht!" Hubert sah gegen 22 Uhr einen Kleintransporter, aus dem ein Mann mehrmals Eimer in das Grundstück schleppte. Er beschloss, sich die Farbe noch anzusehen.

Am folgenden Spätnachmittag erschienen gleich sechs Männer, stürzten sich auf die Eimer und begannen von allen Seiten gleichzeitig mit dem Farbanstrich. Hubert schaute vom Balkon aus zu - die Farbe gefiel ihm immer mehr, auch wenn sie in der beginnenden Dämmerung nur schwer zu erkennen war. Die Männer stellten dann Außenlampen auf und wurden spät am Abend tatsächlich mit der Malerei fertig. Hubert saß am nächsten Morgen noch beim Frühstück, da drang ein Schrei durch alle Wände. Es war Berger, der in sein Handy brüllte: "Seid ihr verrückt geworden, mein Haus violett anzustreichen? Das sollte blau werden! Violett! Ich werde wahnsinnig!!!" Hubert ging langsam zu ihm an den Zaun. "Schauen Sie sich diese Sauerei an. Diese farbenblinden Idioten. Dabei habe ich ein so schönes Blau mischen lassen!", rief Berger, dem Heulen nahe.

"Ja, bei diesen Freundschaftsdiensten hat man keine Garantie", sagte Hubert und lächelte in sich hinein. Schön, dass er gestern Nacht bei sich im Keller noch den großen Topf mit der intensiven roten Restfarbe vom Anstrich seines Gartenhäuschens gefunden hatte ...

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