Sachlich richtig Prof. Schützens Kolumne steht diesmal im Zeichen der Null: Die Stunde Null, war es eine? Wie geriet Egon Krenz unter die Vollnullen? Und wo gibt es Hoffnung?
Neulich zwei ältere Damen im Bus: „Inge hat grad genullt.“ „Ist es denn schon wieder so weit?“ Auch ich habe es kürzlich wieder tun müssen. Bekanntlich sinkt aber die Freude über jede Null ab einem gewissen Alter exponentiell. Anders in der Historienfeierei. Es gibt wieder allerlei Jubiläen!
Nach dem Ersten Weltkrieg nun die Materialschlacht um Verdun, die im Februar 1916 begann und mit der Rückeroberung durch die Franzosen am 15. Dezember endete. Weit über 300.000 Soldaten kamen dabei um, noch mehr wurden verwundet. Gleichermaßen gelitten im erbarmungslosen Nahkampf und unter einem bis dahin beispiellosen Artilleriebeschuss, hat in Deutschland eine spätere Generation versucht, aus den Traumatisierten Ikonen der Steinvisag
erten Ikonen der Steinvisage zu machen. Von Anfang an war es ein verbissen symbolischer Kampf, eine Schicksalsschlacht.„Es wird still um den Ort“, hatte Ernst Jünger 1966 geschrieben. Dem blieb nicht so: Jährlich über 200.000 Besucher hat Verdun, zumal, seit Mitterand und Kohl sich am Douaumont 1984 die Hand reichten. Auf beiden Seiten begann die mediale Bearbeitung schon während des Schlachtens – und hat seither nicht mehr aufgehört. Das vorliegende Buch hebt sich daraus wohltuend hervor. Ein deutscher und ein französischer Historiker, beide höchst renommiert, haben das Buch gemeinschaftlich und zweisprachlich verfasst. Ihnen ist fulminant gelungen, die unterschiedliche Bedeutung dieses Mythos, seine Genese wie Folgen, plastisch werden zu lassen.Religiöser und politischer Fanatismus, separatistische Bewegungen, massive ausländische Interventionen, Propaganda und Desinformation aus allen Lagern – wer dächte dabei nicht an Syrien?Als Antony Beevors Buch über den Spanischen Bürgerkrieg 2006 erstmals erschien, dachte man noch an den Irak. „Ein Bürgerkrieg ist kein Krieg, sondern eine Krankheit“, mit diesem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry beginnt seine Darstellung. Das ist nicht bloß eine Kranken-, das ist eine Irrsinnsgeschichte. Die katholische Kirche heulte über den Tod von über sechstausend Priestern. Dass sie kräftig mitgeholfen hatte, die halbe Nation in Elend und quasi Sklaverei zu halten, dass sie während des Krieges zur Gewalt gegen Republikaner aufstachelte, schien ihr hingegen angestammtes Recht.„Wir erheben unsere Herzen zu Gott, wir bedanken uns aufrichtig bei Eurer Exzellenz für den Sieg des katholischen Spanien“ – begrüßte Pius XII. Franco. Erfolgreich durch massive italienische und deutsche militärische Unterstützung, durch amerikanische Lastwagen und Öl, nicht zuletzt wegen der „unehrlichen Neutralität“ Englands und Frankreichs. Die andere Seite, bekanntlich, war zerrissen. Anarchisten, Republikaner, Kommunisten bemisstrauten sich. In Fortsetzung von Stalins Paranoia verübten Kommunisten regelrechte Massaker unter den Republikanern. Die idealistische Jugend Europas und Amerikas kämpfte auf Seiten der Republik. Sie wurde nicht minder Opfer wie die Wahrheit, an deren Verdrehungen sie nicht selten teilhatte. Das alles ist beklemmend zu lesen, spiegelt nicht nur die Gegenwart, sondern erinnert, wie viel an Vergangenheit so wie diese war.Placeholder authorbio-1Dass 1945 die Stunde Null nahezu null Chancen hatte, kann man besonders gut sehen an der Literatur, in der diese blaue Stunde gern behauptet wurde – zeigt Christian Adam in einem spannenden Buch. Nachdem Adam sich zuvor durch die wahrhaftigen Bestseller der NS-Zeit gekämpft hatte, hat er sich nun die Zeit danach vorgenommen, in der selbst in der ehemaligen DDR neun Prozent der Literaturpreisträger ehemalige Nazis waren. Im Westen waren’s zwar zwölf, aber der war erstens größer und zweitens nicht zentralistisch kontrolliert. Peinlich für den Westen: Nur 28 Prozent Emigranten und Verbotene. Im Osten 48. Das ist der statistische Auftakt zu einer höchst fundierten und kurzweiligen Tour durch die Nachkriegsjahre, durch beschämende Kontinuitäten, verblüffende Gemeinsamkeiten, aber eben auch merk-liche Differenzen. Das ist weniger Exhumierung als Verlebendigung. Selbst wenn man da Lemuren wie Heinz G. Konsalik oder Harry Thürk begegnet.Zur Null macht man sich zwar für üblich selbst, ist es aber erst, wenn man dazu erklärt wird. Oliver Jungen und Wiebke Porombka rechnen den Deutschen (und Österreichern) ihre Nullen vor. Politiker, Feldherr, Kaiser, Architekt, Apparatschik oder Manager. Erstaunlicherweise niemand aus Sport und Medien. Auch keine Frauen – wiewohl sich möglicherweise Margot Käßmann freiwillig gemeldet hätte. Seltsame Mann-Schaft, die hier aufläuft, man wähnt sich zuerst in einem Dauershitstorm, doch dann wird es fundierter. Wilhelm Zwo, wie sein Verwandter Leopold Beinahekönig von Spanien, werden aufs Feinste nullifiziert. Es folgen Aussitzer, Größenfantasten, Scharlatane und immer wieder Tollpatsche. Die „Ziege“ Scharping, Nudistenrassist Ungewitter ebenso wie Stadtplaner Gutschow, der Hamburg beinahe, Hannover ziemlich malträtierte, Egon Krenz wie Konrad Zuse. Warum der unter die Vollnullen geriet, kann man nur ahnen: öfters Pech gehabt und das schöngeredet. Vielleicht auch, weil er das Prinzip 0/1 computertechnisch umsetzte. Die „angewandte Nietenforschung“: mal lehrreich, mal bizarr,„Wie kindisch-täppisch, wie utopistisch-unreif bist Du, oh philosophische Menschheit, gleich freudig auf einen ‚Weltkrieg‘ die Hoffnung zu gründen, es kämen dann radikale Veränderungen zum Besseren!?! Arbeitet lieber kleinlich-emsig-resigniert à la Ameise und Biene an der Hygiene des Leibes, der Seele, des Geistes!“ – hat Peter Altenberg 1916 (Jubiläum!) notiert.Was Kathrin Klette, ohne dies zu kennen, in ihrem Buch liefert, sind sozusagen die Ausführungsbestimmungen des Altenberg’schen Imperativs. Sie brennt bei ihrer Werbung für Hoffnung keine intellektuellen Wunderkerzen ab, ist eher unaufdringlich, manchmal auch etwas betulich, aber darin umso überzeugender, wenn sie Hoffnung als Teil unseres Immunsystems begreift. Es muss ja nicht gleich wie im Tierexperiment sein, wo die Ratte – kurzfristig aus dem Wasserbottich gerettet –, anders als die resignierten Kollegen, bis zu drei Tagen strampelt. Hoffnung kann auch, wie Peter Altenburg wusste, stupide sein. Doch frühlingshaft wirbt die „Anleitung zur Zuversicht“ gegen die gelernte Hoffnungslosigkeit. Im Gespräch mit Experten für Kinder, Liebende, Arbeitslose – besonders heikel –, Todkranke, aber auch Flüchtlinge, die dort, wo sie angekommen sind, nicht angenommen werden. Das ist überzeugend und möglicherweise sogar hilfreich.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2
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