Wahre Demokratie

Radio Corax Mit seinem Interviewprojekt „Wendefokus“ hat das Lokalradio aus Halle ein authentisches Gesprächsarchiv zum Mauerfall geschaffen - abseits der gängigen Jubelsprache
Ausgabe 43/2014
Inzwischen werden die Interviews auch für Forschungen an den Universitäten in Halle und Potsdam genutzt
Inzwischen werden die Interviews auch für Forschungen an den Universitäten in Halle und Potsdam genutzt

Screenshot: wenderfokus.de

In einem Landstrich, in dem es einmal einen kleinen Aufstand gab, als ein beliebter Radiosender von Staats wegen abgeschaltet werden sollte (es ging um DT64, den früheren Jugendkultursender der DDR, und dessen drohendes Ende in den frühen 90ern), ist es wohl kein Wunder, dass das freie Radio eine regelrechte Blüte erlebt. Wer bei Harfengezirpe von Angelo Branduardi oder Dudelpop à la Miley Cyrus ins Gähnen kommt, ist bei Radio Corax aus Halle richtig. Da wird Musik aufgelegt, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk als nicht konsensfähig und bei den Privaten als geschäftsschädigend gilt: ein brandneues Jazzstück von David Bowie, eine Komposition von Gil Scott-Heron oder auch eine straighte Punknummer. Radio Corax ist ein 1993 gegründetes sogenanntes nichtkommerzielles Lokalradio, das nach den Bestimmungen des Landesmediengesetzes aus Mitteln der öffentlichen Hand gefördert wird.

Ein Juwel im Corax-Programm: der Wendefokus, ein seit fünf Jahren laufendes Interviewprojekt. Das Interesse gilt dabei den Menschen, die rund um 1989 in unerhörte Ereignisse gerieten, in ihnen agierten, manchmal von ihnen fortgerissen wurden. Das ist ein Unterschied zur gängigen Jubelsprache zum 25. Jubiläum des Mauerfalls, die diese Menschen meist als homogene Masse darstellt, die wunderbar heldenhaft gegen eine ebenfalls homogen vorgestellte Funktionärskaste aufbegehrte.

Inzwischen ist das Gesprächsarchiv auf gut 110 Stücke angewachsen. Jedes dauert zwischen 30 und 60 Minuten. Einen „Fundus von Oral History“ nennt Ralf Wendt, Mitbegründer des Senders, diese Sammlung, die inzwischen auch für Forschungen an den Universitäten in Halle und Potsdam genutzt wird. Das Spektrum der Gesprächspartner reicht vom Ex-Punk, der mit der Staatsmacht in Konflikt kam, bis zum Kleinunternehmer, der in der DDR seine Firma nur mit Mühen über die Runden brachte. Auch Petra Sitte, Politikerin der Linken, Bernhard Bönisch, CDU-Stadtrat, und Karamba Diaby, 1985 aus dem Senegal zum Studium nach Halle gekommen und heute bei der SPD, kommen zu Wort. Sie alle zeigen, wie unterschiedlich sich eine Zäsur wie die von 1989/90 in den Biografien von Menschen spiegelt. Es wird anschaulich, dass die „friedliche Revolution“ das Resultat vielfältigen individuellen Handelns war.

Radio Corax sendet auf der UKW-Frequenz 95.9 und im Netz unter 959.radiocorax.de

Ein gutes Beispiel dafür sind auch Wulf Brandstätter und Christian Feigl. Brandstätter, bis 1990 Stadtarchitekt von Halle, bekam den Architekturpreis der DDR für ein innerstädtisches Plattenbauprojekt und verhinderte zur gleichen Zeit den Abriss eines Renaissancefachwerkhauses. Feigl wiederum gründete mit Gleichgesinnten 1983 den oppositionellen Arbeitskreis Innenstadt, der die Vernachlässigung der alten Bausubstanz und den Flächenabriss kritisierte. Sie standen auf verschiedenen Seiten im gesellschaftlichen Raum der DDR. Beide bezogen sich aber auf dieselbe Problemlage – und beide, der Architekt und der ehrenamtliche Denkmalschützer, sahen auch nach 1990 weitere Baudenkmäler verschwinden.

Corax hat in Halle heute mehr Hörer als der MDR-Kultursender Figaro, sagt Ralf Wendt. Über das Internet wächst längst auch bundesweit der Hörerkreis. Freies Radio hat heute nicht nur eine crossmediale Struktur, Hörer können als Macher ihre eigenen Inhalte einspeisen. Eine Blaupause für wahrhaft demokratische Medien.

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