A
Aale Sein Lebenszyklus ist etwas unpraktisch: Zum Laichen ziehen sämtliche Aale dorthin, wo sie geschlüpft sind, nämlich in die Sargassosee in der Nähe der Bahamas. Vom Berliner Müggelsee ist das weit entfernt, weshalb dieser letzte Lebensakt nach der 1,5-jährigen Reise ihnen die letzten Energiereserven raubt, und die Aale sterben. Über den evolutionären Nutzen dieses Verhaltens rätseln Forscher nach wie vor (➝ Kartoffelkäfer). Früher sind die jungen Glasaale zurück nach Europa geschwommen; seit die Wasserwege allerdings von Schleusen versperrt sind, gelingt ihnen das nicht mehr selbstständig. Sie werden an der europäischen Küste abgefangen und in den Binnengewässern zu Millionen ausgesetzt. Da der Prozess des Laichens selbst allerdings noch nie beobachtet werden konnte, darf man insgeheim noch auf einen eklatanten Forschungsfehler hoffen.Tilman Ezra Mühlenberg
F
Fauna-Rassismus Als „biologische Invasion“ bezeichnet man Tiere, die sich in einer Region ausbreiten, wo sie nicht heimisch sind. Die Fachsprache klingt nach dem Vokabular der besorgten Bürger, nach Fauna-Rassismus. Da ist von natürlichen Grenzen die Rede, die bestimmte Tiere stoppen oder stoppen sollten. Die Neuankömmlinge – Neozoen genannt – brächten andere Verhaltens- und Lebensweisen mit, kurz: hätten eine andere Kultur, die den heimischen Tieren nicht bekäme. Im Grunde sind alle Schädlinge. Der ➝ Waschbär macht auf putzigen Typen, ist in Wahrheit aber ein Einbrecher, der Schrebergärten plündert. Auf die Hälse junger deutscher Frauen hat es der amerikanische Nerz abgesehen, den europäischen Nerz hat er weithin verdrängt. Australien schützt dagegen das Nützliche vor Eigenem und Fremdem, mit materiellen Grenzen. Schafe gehören nicht zur ursprünglichen Fauna Australiens. Auf 5.000 Kilometern Länge schützt ein Zaun Schafe vor Dingos und eingeschleppten europäischen Füchsen. Tobias Prüwer
H
Hengst „The Transit of Hermes“ ist eines der interessantesten Projekte der Documenta 14 (➝ Waschbären). Der schottische Künstler Ross Birrell hat es initiiert: den Ritt von Athen, von der Akropolis bis nach Kassel. Drei Monate waren fünf Pferde der Rassen Criollo, Haflinger, Kabardiner, Karabagh und Arravani und ihre vier Reiter unterwegs. Auf einer Strecke von etwa 3.000 Kilometern. Birrell versteht den Ritt als Symbol der Freizügigkeit – als „mobiles, partizipatorisches, menschlich-pferdeartiges, 100 Tage andauerndes Ensemble“. Dieses Ensemble mit den Wanderreitern Tina Boche, Peter van der Gugten, Zsolt Szabo und David Wewetzer bewegte sich migrantisch auf einer der Fluchtrouten quer durch Europa, überquerte Grenzen, nahm sich die Freiheit, auf seinem Weg eine Diagonale durch Europa zu zeichnen.
Ist das platte politische Symbolik – oder sind die Pferde, einer davon ist Hengst „Hermes“, ein fulminanter Beitrag zur aktuellen Kunstschau in Kassel? „Hermes“, das seltene griechische Bergpferd, ist in jedem Fall einer der Stars der Documenta geworden. Ein migrantisches Lebewesen. Ein Hengst im Transit, ein symbolträchtiger Bote, dessen wesenhaftes Ziel nicht Kassel, sondern die Bewegung selbst ist. Marc Peschke
K
Kartoffelkäfer „Die Amis haben uns den Kartoffelkäfer geschickt.“ Das Gerücht hörte man in der DDR öfter. Bertolt Brecht dichtete: „Die Amiflieger fliegen / silbrig im Himmelszelt / Kartoffelkäfer liegen / in deutschem Feld.“ Wurden die Insekten als Biowaffe eingesetzt, um die DDR agrarökonomisch zu schwächen? Auch die Nazis experimentierten mit Kartoffelkäfern.
Das Gerücht ist eine Lüge: Die Alliierten haben nie Käfer abgeworfen. Der im 19. Jahrhundert aus den USA nach Europa gekommene Kartoffelkäfer war nicht nur in der DDR eine Plage. Aber dort konnte man mittels Propaganda die eigene Machtlosigkeit gegenüber der Natur kaschieren (➝ Zurückgezüchtet). Und man schickte die Schüler in besondere Ferien: Sie hatten schulfrei, mussten allerdings auf den Feldern die Insekten von den Pflanzen lesen. Tobias Prüwer
M
Mücke Als heimsuchende Plage langer Sommerabende haben sich einheimische Mücken seit Jahrtausenden erfolgreich in der Nähe von Licht- und Blutquellen etabliert. Manche Menschen, darunter ich, werden mit großer Vorliebe von den lieben Biestern heimgesucht. „Du hast süßes Blut“, heißt es dann. Vielleicht auch nur eine dünne Haut.
Im Süden Deutschlands durchaus heimisch, früher aber eher Ställe als menschliche Behausungen aufsuchend, ist die Kriebelmücke. Die Mietnomadin unter den Insekten sticht allerdings nicht; sie beißt stattdessen, und injiziert dabei ein Gemisch aus toxischen Stoffen in die Wunde des Wirtsmenschen. Diese Toxine können heftige, von starken Schwellungen begleitete Entzündungen auslösen. Die Mikrovampire sind lästig, richtig gefährlich sind ausländische Stecher. Man denke da an die in Asien heimische Tigermücke. Ein Stich genügte, um in Italien im Jahr 2007 über 200 Menschen am Chikungunya-Fieber erkranken zu lassen. Gestochen wurde nur ein Mensch. Der aber übertrug die Infektionskrankheit auf zahlreiche Mitmenschen.
Immer öfter reisen die Tigermücken als blinde Passagiere (➝ Schmuggel) in Containerlieferungen von Asien nach Europa. Hierzulande überleben sie wegen ihres kurzen Lebenszyklus nicht lange, aber lange genug, um Menschen mit schweren Krankheiten zu infizieren. Die Tigermücke ist eben ein echter Globalisierungsgewinner, obwohl, wer kann schon sagen, ob Aedes Albopictus, so ihr wissenschaftlicher Name, die weite Schiffsreise mit Freude antritt? Wasser ist ja schließlich nicht ihr Element. Marlen Hobrack
S
Schildkröte Allein der Name: Nordamerikanische Buchstaben-Schmuckschildkröte. Ich habe leider nicht herausfinden können, wo die Buchstaben auf der Kröte sind. Aber dass sie zur Familie der Neuwelt-Sumpfschildkröten gehört und in zahlreiche Unterarten unterteilt ist. Neben der Gelb- und Rotwangen-Schmuckschildkröte werden noch zwölf weitere Subspezies gezählt. Die Tage verbringen die wärmeliebenden Viecher in der Regel mit Sonnenbaden und flüchten bei der kleinsten Bedrohung (➝ Mücke) ins Wasser. Während der Balz verfolgt das Männchen mit charakteristischen Kaubewegungen das meist wesentlich größere Weibchen. Dann führt das Männchen mit seinen Vorderläufen zitternde Bewegungen vor dem Kopf des Weibchens aus und versucht durch heftige Bisse, das Weibchen zur Kopulation zu bewegen. Die NABSS ist ein beliebtes Terrarientier, das bis zu 42 Jahre alt wird und recht anspruchsvoll ist. So ist es leider nicht verwunderlich, dass zahlreiche Besitzer sich ihrer irgendwann entledigen. Was aus Gründen des heimischen Artenschutzes verboten ist. Auf der Internetseite der AG Schildkröten findet man neben regelmäßigen Schildkrötenstammtischen in verschiedenen Städten auch die Rubrik „Gestohlen/Gefunden“. Elke Allenstein
Schmuggel Schlangen, Schildkröten und Reptilien – solche exotischen Tiere kann man hierzulande nicht nur hinter zentimeterdicken Scheiben im Zoo betrachten. Zollbeamten auf bundesdeutschen Flughäfen blicken Menschenaffen, Wildkatzen und Papageien nicht selten auch aus Touristenkoffern ins Auge. Für die Tiere wirkt sich der Wunsch von Reisenden, sich ein ganz besonderes Andenken aus der Ferne mitzubringen, verheerend aus (➝ Wolf). Nicht wenige Lebewesen verenden elendig während der langen Flüge. Andere müssen wieder aufgepäppelt werden.
Die Naturschutzorganisation WWF und der Frankfurter Zoo haben darum einen Souvenir-Ratgeber herausgebracht, der über ungewollten – und oft illegalen – Schmuggel aufklärt. Um diejenigen, die bewusst exotische Tiere nach Europa schmuggeln, um Geld zu machen, kümmert sich die Polizei. So wurde 2014 in Frankfurt am Main ein Mexikaner festgenommen, der in seinem Koffer 90 Tiere nach Barcelona transportieren wollte. Geschätzter Wert der Tiere: 50.000 bis 60.000 Euro. Behrang Samsami
W
Waschbären Warum nach Kassel fahren? Um die Documenta zu besuchen und sich danach zusammen mit anderen Bildungsbürgern darüber aufzuregen, dass die 14. Ausgabe „die enttäuschendste aller Zeiten“ (so Cornelius Tittel in der Welt) ist? Vielleicht sollte Kassel lieber mit etwas werben, von dem sie wahrlich genug haben: Waschbären!
1934 wurde am hessischen Edersee ein nordamerikanisches Pärchen der Procyon-Gattung ausgesetzt – mit offizieller Genehmigung der Reichsjägermeister Göring unterstehenden Jagdbehörde. Ihre Nachkommen gehen mittlerweile in die Tausende – und sie haben ihren Weg in die Stadt gefunden, wo sie sich so wohl fühlen, dass Kassel auch „Hauptstadt der Waschbären“ genannt wird. Sie haben keine natürlichen Feinde (➝ Schildkröte) und finden in den städtischen Abfalltonnen alles, was sie zum Leben brauchen. Waschechte Bildungsbären bevorzugen Villen- und Einfamilienhausgegenden mit viel Baumbestand. Dort machen sie es sich gern auf Dachböden gemütlich – oft leben 20 bis 30 Tiere dort zusammen, von den menschlichen Mitbewohnern erst bemerkt, wenn sie einen ordentlichen Schaden angerichtet haben. Aber auch Gartenlauben und Parks sind nicht vor ihnen sicher. „Görings Günstlinge haben Kassel im Griff“, titelte der Spiegel bereits im Jahr 2004. Was als alberne Alliteration affektierter Angeber angesehen werden mag, beschreibt ein echtes Problem: Ausrotten ist nicht mehr möglich. Die beste Lösung für Kassel: die nächste Documenta mit Waschbären veranstalten – wetten, dass niemand enttäuscht sein wird? Christina Borkenhagen
Wolf Der böse Wolf und der Schwarze Mann teilen in der deutschen Kulturgeschichte den Platz des bösen Außen, der zugleich die Gewalt des weißen Mannes und die Schutzbedürftigkeit der Frau legitimiert. Während Rotkäppchen rührselig den Wolf für die Großmutter hält, und lediglich neugierig deren veränderte Körperteile hinterfragt, erkennt der Jäger, klaren Blickes wie Schrittes, sogleich den Wolf im Bett der Großmutter. Wenig überraschend lautet die Moral von der Geschicht’, Mädchen, entferne vom Wege dich nicht. Dass der Wolf nun nach 150 Jahren zurück nach Deutschland wandert, ruft Ängste wach, die zuletzt nur menschlichen Migranten vorbehalten waren (➝ Fauna-Rassismus): Wie viele Wölfe sind zu viele Wölfe? Was, wenn sie ihre Familien nachholen? Braucht Deutschland eine Wolf-Obergrenze? Während der NaBu mit Aufklärungsbroschüren versucht, dem schlechten Ruf der scheuen Tiere entgegenzuwirken, wächst die Empörung über jene „Problemwölfe“, die wahllos Nutztiere reißen, hinterlistig Zäune überspringen oder untergraben und keinen Respekt vor den einheimischen Schafen zeigen. Sina Holst
Z
Zurückgezüchtet Im polnisch-weißrussischen Białowieża-Wald jagten Generationen polnischer Könige und russischer Zaren. 1941 besetzte die Wehrmacht das Gebiet. Göring wollte aus dem Wald einen Nazi-Urwald machen und spezielle „germanische“ Tierarten ansiedeln, darunter der Auerochse. Sinnbild ungezähmter Stärke (➝ Hengst) und seit dem 17. Jahrhundert ausgestorben. Deutsche Wissenschaftler machten sich bereits in den 1920er Jahren an die Aufgabe, das Tier zurückzuzüchten, indem sie Rinder aus Frankreich, Schottland, Spanien und Korsika kreuzten. Das Ergebnis war tatsächlich ein Vieh, das dem Auerochsen ähnelte, rein äußerlich, nicht genetisch: das Heckrind. Johanna Montanari
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