Wann wachen wir auf?

Gerechtigkeit Gegen die wachsende Schere zwischen Arm und Reich hilft nur noch eine antikapitalistische Revolte à la 1968. Pikettys Buch macht klar, dass es Zeit ist, sie zu erneuern
Ausgabe 42/2014
Ein Anfang vom Aufstand? Die Blockupy-Proteste in Frankfurt
Ein Anfang vom Aufstand? Die Blockupy-Proteste in Frankfurt

Foto: Sean Gallup / Getty Images

Jede von einem Buch ausgelöste Debatte, die sich der Einsicht wenigstens nähert, dass Kapitalismus immer auch Zwangswachstum bedeutet, ist nützlich. Bei Thomas Piketty, dessen Buch Capital in the Twenty-First Century jetzt auch auf Deutsch erschienen ist, stellt sich Wachstum zwar nicht als Zwang dar, sondern nur als eine ständige Tatsache; darin unterscheidet er sich von Karl Marx, Max Weber, John Maynard Keynes oder von Hans Christoph Binswanger, der die Ökosteuer angeregt hat. Aber das ist kein Wunder, da er unter dem Wachstum nicht leidet. Was ihn einzig umtreibt, ist die sich immer weiter öffnende Schere von Arm und Reich. Er ist eben ein Sozialdemokrat. Trotzdem rückt sein Buch das Entscheidende am Kapitalismus ins Zentrum der Aufmerksamkeit: nämlich dass die Begriffe Kapital und Wachstum praktisch austauschbar sind. Und das ist gut so.

Die Folgeerscheinung, die Pikettys Thema ist, ist auch wahrlich wichtig genug. Wachstum ist nicht gleichmäßig verteilt, sondern Kapitalismus bedeutet, dass Kapitaleinkünfte stärker wachsen als Einkommen aus Arbeit. Das ist der Zwang, den Piketty empirisch beweist. Zwar scheint seine These mit der Entwicklung zwischen 1930 und 1975 nicht so recht übereinzustimmen; aber das Buch kann zeigen, dass die Ungleichheit der Einkommen damals nur wegen besonderer Umstände nicht wuchs. Auch sein Vorschlag, dass es eine sehr starke Progression bei der Einkommensteuer geben müsste, ist begrüßenswert.

Wenn man mit seinem Ansatz die Geschichte der Bundesrepublik durchleuchtet, findet man ihn natürlich bestätigt. Der Rheinische Kapitalismus war besser und war leider 1975 vorbei. Bis ungefähr 1967 gab es immer gerade so viel Kapital, wie für den erweiterten Wiederaufbau der durch den Weltkrieg zerstörten Volkswirtschaft gebraucht wurde. In einer solchen Situation hängt jedes Einkommen von allen anderen ab; die Reichtumsschere öffnet sich nur leicht.

Heute hingegen mangelt es dem Kapital an Anlagemöglichkeiten – in der Bundesrepublik sowieso, aber auch in der ganzen Welt –, die zugleich produktiv und profitabel wären. Weil es deshalb auf die Finanzmärkte ausweicht, wächst die Reichtumsschere. Es wäre in der Tat besser, überschüssige Kapitaleinkünfte durch Steuern öffentlich abzuschöpfen und mit ihnen inländische wie weltweite Aufgaben auch dann zu bewältigen, wenn kein Profit dabei herausspringt. Freilich dürfte diese Lösung ohne Revolution nicht zu haben sein.

Das spricht aber nicht gegen, sondern für Pikettys Buch. Bereiten wir also den Aufstand gegen das Kapital vor! Aber spätestens wenn wir das tun, müssen wir genau wissen, wogegen sich der Aufstand richtet. Wenn es nur darum gehen sollte, die Reichtumsschere abzuschaffen, und nicht auch deren Ursache, den Wachstumszwang, wird sich die Ungerechtigkeit immer wieder neu reproduzieren.

Man könnte die Geschichte der Bundesrepublik ja auch so erzählen: Zunächst ist das Kapital nur in dem Maße gewachsen, wie es die Umstände im Wirtschaftswunderland ermöglicht und erfordert haben. Das aber hatte ein Ende. Und da hätte man den Kapitalismus beenden sollen. Von da an war es vernünftig, zu einer Produktionsweise überzugehen, die immer nur dort wächst, wo Wachstum sinnvoll erscheint, von Fall zu Fall also statt zwanghaft. Ganz passend kam es damals zur antikapitalistischen Revolte, der von 1968. Pikettys Buch macht jedenfalls klar, dass es Zeit ist, sie zu erneuern.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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