Warten auf den Tod

Zuflucht Piotr Bednarskis beeindruckender Roman "Blauer Schnee"

Es ist eine Schande, dass dieses Buch per Zufall - der französische Lektor von Piotr Bednarski entdeckte es in einem Warschauer Antiquariat - nach Deutschland gelangen musste und hier nun auch noch weitgehend unbemerkt bleibt. Denn anzuzeigen ist ein poetischer, aufwühlender und glänzend übersetzter Roman, der zweifellos zu den großen Ghetto- und Gulag-Romanen von Solschenizyn bis Hilsenrath zu zählen ist.

Sein Verfasser ist der bei uns bislang völlig unbekannte Piotr Bednarski, 1934 in Horeszkowce im östlichen Polen geboren, als Kind mit seiner Familie nach Sibirien deportiert und nach dem Zweiten Weltkrieg als einziger Überlebender nach Hause zurückgekehrt. Erzählt wird die vermutlich weitgehend autobiographische Geschichte des kleinen Pjetja, der während der Schreckensherrschaft Stalins in den vierziger Jahren mit Mutter, Tante und Großeltern in eine Kleinstadt am Rande der Taiga verbannt wird. Die Vergangenheit erscheint Pjetja nur noch als Märchen, und seine Hoffnung, durch "eine Kugel zu sterben und nicht am Hunger oder an der Kälte", hält ihn am Leben.

Pjeta könnte ein ganz normaler Junge sein, der sich ein Matrosenhemd wünscht, Schlagball spielt, Flieger werden will, Streiche ausheckt und sich in ein Mädchen verliebt. Der kleine Junge aus Polen hat eine Mutter, die er nur "Schönheit" nennt und der alle Militärs und Lageraufseher hinterher rennen. Sein Vater durchläuft die Hölle der Arbeitslager, ihn wird er nur noch einmal kurz sehen. Überall drohen Denunziation, Lynchjustiz und stalinistischer Terror; Armut, Hunger und Kälte prägen die Tage. Grausam und brutal sind viele Szenen dieses Romans, sie zeigen die unmenschliche Härte dieses Daseins, das für viele nur ein Warten auf den Tod ist.

Das Besondere an diesem Roman ist, dass Bednarski es versteht, diese extremen Bilder mit einer zärtlichen, empfindsamen Sprache aufzuladen, die die Erfahrungen des Jungen in all ihrer Ambivalenz reflektiert. Der tägliche Schrecken und das frohe Erleben jedes neuen Tages in einem jungen Leben, beides kombiniert der Autor mit den Träumen und Hoffnungen Pjetjas und seiner Leidensgenossen. Pjetja findet durch seine jüdische Mutter in die Welt der Bibel und ist so ergriffen von der Lektüre, dass er seinen Freunden mehrmals die Bergpredigt auswendig vorträgt. Er schminkt eine Stalin-Büste als Clown, verliebt sich in die schizophrene Tamara, die nachts bei den Obelisken der Revolutionäre singt, verehrt den Gottesnarren Pachomjusch und dessen Tinte Gottes, bekommt eine Zobelmütze für seine ersten Gedichte geschenkt und klebt sich ein rotes Herz auf den Pullover, als er sich in Tanja verliebt. Obwohl im Lager ein Mensch weniger wert ist als eine Mücke und permanent Freunde und Verwandte, am Ende auch seine geliebte Mutter, verhaftet und erschossen werden, bleibt Pjetja zäh, überlebenswillig und sucht Zuflucht im Dichten.

Bednarski findet besondere, eindrückliche und nachwirkende Bilder für das, was er erzählen will: Die wattierte Steppjacke wird zum "sowjetischen Smoking der Vertriebenen und Verbannten", der Autor erzählt von den "weißen Signalen des Wahnsinns" und weiß, dass nur "ein Grab befreit von dieser Welt". Dieser Roman möge viele Leser finden, denn selten ist das Grauen des Gulags derart eindrücklich und hochliterarisch geschildert worden.

Piotr Bednarski: Blauer Schnee. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Roman. Ullstein, Berlin 2006, 160 S., 16 EUR


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