Thomson, Illinois Zwischen Hoffnung auf neue Jobs und Angst um die eigene Sicherheit: Wie sich ein amerikanisches 550-Seelen-Dorf darauf vorbereitet, Guantánamo-Häftlinge aufzunehmen
An der leeren Hauptstraße von Thomson stehen nur vor „Dusty’s Pizza Place“ und „Mr. Z’s Sportsbar“ ein paar Pickup-Truck. Die schmalen Holzhäuserreihen liegen im Winterschlaf inmitten der schneebedeckten Felder, die sich ringsum in die Weite erstrecken. In der Sports Bar sitzt Randy Starr allein mit verschränkten Armen vor seinem Kaffee. Um diese Jahreszeit sei nicht viel los in einem Ort, der von der Landwirtschaft lebe, sagt er zögerlich. „Die Leute kennen Thomson wegen seiner Wassermelonen als ‚Melonen-Hauptstadt der Welt‘.“
Das hat sich seit November schlagartig geändert, nachdem die US-Regierung erklärte, Guantánamo schließen und die verbleibenden Gefangenen in das Hochsicherheitsgef
itsgefängnis bei Thomson, 240 Kilometer westlich von Chicago, verlegen zu wollen. 3.000 neue Jobs verspricht Washington der 550-Einwohner-Gemeinde. „Und die haben wir bitter nötig“, seufzt Starr. Dabei gab es schon Ende der 90er Jahre einen ambitionierten Plan, um die Gemeinde wirtschaftlich zu beleben – und der ruht direkt hinter der Sports Bar am nördlichen Ortseingang von Thomson: Im strahlend weißen Schnee liegen dort so friedlich wie großteils leerstehend acht kreuzartige Gefängnisblöcke mit jeweils 200 Einzelzellen, umgeben von einem elektrischem Zaun mit potentiell 7.000 Volt, von mehr als 300 Überwachungskameras, von Bewegungsmeldern und Wachtürmen.Motel mit GefängnisblickSeit November sind viele Journalisten in Thomson gewesen. Randy Starr schmunzelt nachdenklich. Allen Journalisten hat er bisher eine Abfuhr erteilt. Der Washington Post zum Beispiel und auch den Leuten von Fox News, dem aggressiven rechts-konservativen Kanal von Rupert Murdoch. Sie alle wollten den ehemaligen Bürgermeister sprechen, der als einziger aus dem Gemeinderat gegen die Verlegung der Guantánamo-Häftlinge nach Thomson votiert hatte, obwohl er sich ursprünglich stark für den Bau des Gefängnisses engagiert hatte. Doch Starr wollte sein Gesicht nicht überall in den Medien sehen und die Entscheidung für oder gegen die neuen Häftlinge fällt ihm sichtlich immer nicht leicht.Auch bei Jonathan Whitney, Herausgeber der lokalen Wochenzeitung Carroll County Review, rufen jeden Tag neue Journalisten an. Er grinst und sein buschiger Schnurrbart grinst mit: Zuletzt sei ein japanisches Kamerateam dagewesen, das stundenlang die leere Hauptstraße vor seinem Redaktionshaus gefilmt hätte. „Der US-Staat Illinois ist in den meisten seiner Gefängnisse chronisch überbelegt und benötigt bis heute neue Kapazitäten“, sagt Whitney, und damals im Jahr 1998 erhielt das kleine Thomson den Zuschlag für den Bau dieses großen Gefängnisareals.Whitney erinnert sich an die Hoffnungen, die damit verbunden waren. Die Gemeinde investierte in die Infrastruktur und baute für 1,4 Millionen Dollar eigens einen neuen Wasserturm, der nur das neue Gefängnis bedienen sollte. Einige Geschäftsleute vergrößerten ihre Läden; die Sports Bar und ein neues Motel, das „Executive Inn“, wurde direkt in Sichtweite zum Gefängnis gebaut. Doch weil der Staat Illinois nur 140 Millionen Dollar hatte, um das Gefängnis zu bauen, war schließlich kein Geld vorhanden, um das Gefängnis auch zu betreiben. Nach der Fertigstellung des Baus im Jahr 2001 hatte Thomson somit ein „Super-Maximum-Security-Gefängnis“ auf dem neuesten Stand der Technik – doch es fehlten die Insassen. Und damit deren Angehörige und Rechtsanwälte, sowie Staatsanwälte und Sicherheitskräfte, die Thomson den wirtschaftlichen Aufschwung hätten bringen sollen. John Whitney deutet auf die große Kreuzung: „Die zwei größten Geschäfte in Thomson, das Lebensmittelgeschäft und die Tankstelle, mussten schließen, da die erhoffte Kundschaft ausblieb.“Über acht lange Jahre hatte man sich in Thomson allmählich daran gewöhnt, ein riesiges Gefängnis für 1.600 Insassen in der Nachbarschaft zu haben – das die meiste Zeit nicht einmal zu einem Achtel ausgelastet war. Dann kam die neue Regierung mit Präsident Obama, der als ehemaliger Senator von Illinois viele Wählerstimmen aus Thomson erhielt. Und der politische Kurswechsel im Umgang mit den Guantánamo-Gefangenen. Seit im August 2008 der Supreme Court als höchste Gerichtsinstanz der USA allen Guantánamo-Gefangenen das Recht auf die Überprüfung ihrer Haft durch ein US-Gericht zusprach, ist die Frage ungelöst, was mit denjenigen geschehen soll, die die Bush-Regierung als „die Übelsten der Üblen“ und als „feindliche Kämpfer“ aus einem zivilrechtlichen Verfahren herauszuhalten versuchte.In 37 Dienstjahren ein MordAuf der ersten öffentlichen Anhörung in Thomson im Dezember ging es aber weniger um Fragen des Rechts als vielmehr um Fragen der Sicherheit. Knapp 1.000 Anwohner waren aus der ganzen Umgebung gekommen, um sich die wirtschaftlichen Chancen und sicherheitspolitischen Risiken erklären zu lassen, die 100 Terrorverdächtige für Thomson bedeuten könnten.Auch James Hiher, altgedienter Polizist im Distrikt Carroll County und kurz vor der Pensionierung, nahm an dieser ersten Anhörung teil. Von seinem Garten aus hat er einen Blick über das komplette Areal des Gefängnisses. „Ich mache mir keine großen Sorgen“, sagt er. Bei der Anhörung hätten Regierungsbeamte das Verfahren mit den Gefangenen erklärt: Eine Stunde am Tag könnten die Häftlinge ein paar Schritt im Hof gehen; einmal in der Woche ginge es allein zum Duschen und zurück. Den Rest ihrer Zeit blieben sie in ihrer Einzelzelle. Hiher zuckt mit den Schultern: „Und diese Zelle ist zwei mal vier Meter groß. Das habe ich mir persönlich beim Tag der offenen Tür angeschaut – da kommt niemand rein oder raus.“ Thomson sei ein kleines ruhiges Dorf und das würde auch so bleiben.Während James Hiher 37-jähriger Dienstzeit hat der einzige Mord in Thomson Mitte der neunziger Jahre stattgefunden. Hiher votierte auf der Anhörung für die Verlegung der Gefangenen nach Thomson und mit ihm fast 80 Prozent der Anwesenden, schließlich sei noch niemals einem Gefangenen eines „Super-Max“-Gefängnises die Flucht gelungen. So sprach sich letztlich auch der siebenköpfige Gemeinderat in seiner Mehrheit für die Aufnahme der Gefangenen aus, obgleich seine Zustimmung nicht nötig gewesen wäre, denn die Entscheidung liegt allein beim Gouverneur von Illinois, der das Gefängnis der US-Regierung verkaufen will.Gouverneur Pat Quinn muss sich allerdings im November zur Wiederwahl stellen und daher auf die Stimmung in Illinois Rücksicht nehmen. In Chicago protestierten bereits Demonstranten, die keine Terrorverdächtigen in der Nähe des höchsten Gebäudes der USA, dem Chicagoer Willis Tower (ehemals Sears Tower) wissen möchten. Hiher winkt scherzend ab: „Jeder kennt hier jeden. Fremde fallen sofort auf, erst recht wenn sie einen Turban tragen ...“Auf der anderen Straßenseite steht Chris Babcock breitbeinig im Schnee vor seinem Haus und lädt alte Teppiche auf seinem Truck. Auf seinem roten T-Shirt steht in großen Buchstaben „New York“. Er sei im Sommer aus dem Nachbardorf nach Thomson zugezogen, habe das Haus für einen Schleuderpreis erstanden und wollte es eigentlich für sich selbst renovieren.Im Zuge der Finanzkrise seien in der gesamten Gegend die Immobilienpreise für die sowieso schon leerstehenden Häuser noch einmal gesunken, erzählt Babock. Er lacht und sein massiger Köper schaukelt unter dem roten T-Shirt: „Aber jetzt hab ich das goldene Los gezogen!“ Nun wartet er im Grunde nur noch auf die Regierungsbeamten und Sicherheitskräfte, die in Thomson eine Bleibe brauchen werden – „Angehörige der Terroristen sind ja nicht zu erwarten. Die dürfen schließlich keinen Besuch kriegen“ – dann wird er wieder verkaufen.Haltungen wie diese sind daran schuld, dass Randy Starr nach der Arbeit in der Sports Bar sitzt und nachdenklich in seinem Kaffee rührt. Noch immer hält er die Arme verschränkt und fährt sich dann plötzlich mit beiden Händen über das Gesicht.Angst vor einem MilitärlagerStarr ist seit zehn Jahren im Gemeinderat. Er war Bürgermeister von Thomson und ist das, was er selbst einen „überzeugten, stolzen Amerikaner“ nennt. Er leitet eine Asphaltfirma, ist in Thomson geboren und lebt seit jeher hier.Wenn er Urlaub hat, reist er am liebsten mit seiner Frau nach Jamaika, aber gerade im Ausland stutzt er über die Herablassung, die ihm als Amerikaner oft widerfährt – und über Politik darf er mit Ausländern erst gar nicht diskutieren. Das habe ihm seine Frau verboten. Dabei ist er stolz auf die Verfassung der USA und meint, dass Guantánamo „unrecht“ ist. „Aber was sollen wir tun?“, fragt er immer wieder aufgebracht. „Diese Stadt braucht die neuen Jobs, aber ich will kein Risiko für meine Familie. Guantánamo ist nicht rechtens, aber ich glaube dennoch, es ist der sicherste Platz, um die Verdächtigen dort festzuhalten.“Er habe lange mit Freunden und Arbeitskollegen darüber diskutiert. „Dieses Gefängnis teilt die Stadt und damit ganze Familien in zwei Hälften.“ Niemand könne ernsthaft gegen die neuen Jobs sein – auch er nicht. Thomson würde andernfalls langsam aber sicher ausbluten. Seine eigene Tochter will sofort nach ihrem Schulabschluss wegziehen. Aber die Zahl der versprochenen Arbeitsplätze scheint Starr etwas aufgeblasen, und um einen Job im Bundesgefängnis zu bekommen, müsse man unter 37 sein und einen College-Abschluss haben. „Das hilft den jetzigen Arbeitslosen auch nicht.“Darüber hinaus macht sich Starr grundsätzliche Sorgen um seine Gemeinde, in der er seit 48 Jahren lebt: „Es war ein gutes Leben hier, aber bald wird die ganze Stadt wie ein Militärlager aussehen. Und wer kann mir und meiner Familie versichern, dass nichts passieren wird?“ Und wenn ein Gefangener aus Thomson dann von einem US-Richter freigesprochen werde – müsse der dann nicht selbstverständlich als freier Mann das Gericht verlassen und in den USA leben dürfen? „Wofür haben wir denn unsere Verfassung!?“Während Starr sich Luft gemacht hat, haben sich inzwischen weitere, zumeist ältere Männer zu Starr gesetzt und hören ihm schweigend zu. Plötzlich hebt Starr die Hände und spricht ein Wort aus, das sich im Deutschen vielleicht höflich als „Zwickmühle“ übersetzen ließe. Die anderen Männer nicken. „In einem Land der Freiheit“, sagt er dann, „kann es keine hundertprozentige Sicherheit geben und wenn mein Land im Krieg ist, dann muss ich meinen Beitrag leisten“. Über den Köpfen der Männer laufen derweil die Abendnachrichten auf Fox News. Immer wieder rennen Soldaten durchs Bild. Starr zwinkert müde unter seinem Baseballcap in Richtung Nachrichtensprecher: „Es ist verrückt, aber daran glaube ich.“Gefängnis ja, Terroristen neinAuf dem kurzen Weg nach Hause fährt Starr noch einmal am Gefängnis entlang, für dessen Bau er sich einstmals so eingesetzt hat. „Wenn man heute noch mal die Leute wie 1998 fragen würde: ‚Wollt ihr einen Gefängnisneubau – aber mit Terroristen?‘ Die Antwort wäre 100 Prozent Nein! Aber neun Jahre mit diesem leeren 140-Millionen-Dollar-Klotz ...“ Vor der breiten Garage seines Hauses lässt er den Truck stehen: „Vielleicht verkaufe ich doch all das hier und ziehe mit meiner Familie weg.“Der Gefängniskomplex schimmert inzwischen dunkel im grauen Schnee der Dämmerung. Vor dem Haupteingang hängen die amerikanische Flagge und die Farben von Carroll County schwach im Wind. An der Zufahrtsstraße glänzen große eckige Schilder. Darauf steht eine Warnung: „Keine Anhalter mitnehmen“.
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