Ein Wolkenbruch geht über dem Rift Valley nieder. Grauschwarze Wolken hängen über dem üppig grünen Tal im Süden Äthiopiens, in dem die 40 Quellen von Arba Minch hervorsprudeln. Matt und milchig schimmern zwei Seen in der Ferne. Wasser vom Himmel und aus der Erde, doch aus dem Wasserhahn im Zimmer tropft - nichts. Die Pumpen in der Stadt seien wieder einmal kaputt, sagt man uns achselzuckend. Die Pumpen wurden vor 20 Jahren aus Deutschland geliefert, doch heute funktionieren sie nur noch sporadisch. Dann geht man wieder zum Brunnen und zieht gemächlich Eimer mit Trinkwasser hoch. Irgendwann wird der Wasserhahn schon wieder laufen.
Als die Sonne wieder scheint und wir in der Unterstadt von Arba Minch einen Kaffee trinken, wunderbar starken äthiopis
28;thiopischen Kaffee, kommen wir mit einem jungen Typen ins Gespräch. Gech hat sich gerade kurz geflochtene Zöpfe in Hip-Hopper-Manier zugelegt, weil er seine Haare lang wachsen lassen will. Er sieht nicht nur anders aus als andere junge Männer in dieser Gegend. "Die glauben, dass in Europa das Geld auf den Bäumen wächst", sagt er in gutem Englisch. Das wollten sie den "Faranji" - den Weißen - natürlich aus der Tasche ziehen. Und was machen sie dafür? "24 hours ass-working", sagt Gech trocken. Also rumsitzen und auf eine gute Gelegenheit warten. Bloß keinen Finger krümmen und sich am besten noch den Nagel vom kleinen lang wachsen lassen.Nicht so Gech. "Ich bin auf dieser Straße groß geworden", sagt er und zeigt auf die Buckelpiste vor der Flamingo Pastry, der Hauptgeschäftsstraße der Unterstadt. Er habe als kleiner Junge am Busplatz für Touristen Rucksäcke geschleppt und dabei das erste Englisch aufgeschnappt. Wie viele andere. Aber irgendwann hatte er eine neue Idee, neu jedenfalls für diesen Ort. Er machte einen Büchertausch für Reisende auf. Engländer schickten ihm 50 gelesene Bücher zu, und dann zog er mit seinem Stapel durch die Cafés. Wer ein Buch tauschte, musste fünf Birr, etwa 50 Cent, zahlen. Das brachte ihm schließlich genug Geld ein, um mit zwei Freunden für 30 Birr im Monat ein Zimmer zu mieten, ohne Wasser und Strom. Endlich weg von der Straße. Dann überzeugte er eine Reisegruppe, ihn ins nahe Omo-Tal zu den dort lebenden Stämmen mitzunehmen. So fing er an, das Tal kennen zu lernen, bis er selbst Tour-Guide wurde. Das Geld reichte schließlich, um ein ganzes Haus zu mieten. Bloß weg von der Straße.Mit seiner Mutter hat er später ein privates Waisenhaus eröffnet. 40 Kleinkinder lebten dort, keine älteren, die könne man nicht mehr auf den richtigen Weg bringen, glaubt Gech. "Die Leute hier in den Läden", und er zeigt auf die andere Straßenseite, "haben alle genug Geld. Von denen ist keiner arm, aber sie kümmern sich um nichts." Einigen Ladenbesitzern hat er immerhin einfache Jobs für Straßenkinder abgerungen. Die dürfen nun für ein Birr die eine oder andere Veranda fegen.Mehr Busse kommen nichtIn Arba Minch fühlt sich das Leben schon mindestens einen Gang heruntergeschaltet an. Aber das ist noch gar nichts gegen Konso, 100 Kilometer südlich. Vom Balkon des St.-Mary-Hotels, dem einzigen dreistöckigen, völlig überdimensionierten Haus in diesem Bergort, beobachte ich die zentrale Kreuzung. Die äthiopische Fahne flattert über der Verkehrsinsel im Wind. In der morgendlichen Sonne werfen Menschen und Kühe noch lange Schatten über die rote Schotterstraße. Alles scheint wie in Zeitlupe abzulaufen. Niemand eilt irgendwohin. Nur ein paar Kinder rennen kurz hinter einem Jeep her. Spätestens mit 13 werden sie sich das abgewöhnt haben. Danach werden sie nur noch schlendern wie alle erwachsenen Männer hier. Die Straße rauf und wieder runter, einmal um die Verkehrsinsel, um dann für eine halbe Stunde auf der Mauer der einzigen Tankstelle von Konso zu sitzen. Und zu warten.Aber vielleicht ist schon "warten" ein falsches Wort, ein westliches Wort. In Konso wird heute, an einem Sonntag, nichts passieren. Der Bus aus Arba Minch ist schon angekommen, der aus Jinka wird gleich da sein, und das war´s dann. Mehr Busse kommen nicht. "Faranji" fahren in der Jeep-Kolonne einer organisierten Tour in den Hof gegenüber. Nur ein paar Frauen ackern schwer und schleppen tiefgebückt riesige Brennholzbündel auf dem Rücken über die Kreuzung. Die Männer schauen zu - die Rollenverteilung den meisten Weltgegenden.An diesem Leben prallen sämtliche Konzepte der westlichen Moderne ab - Effizienz, Produktivität, das lässt sich wahrscheinlich in der Konso-Sprache nur umständlich umschreiben. Alles ist Bricolage, Improvisation, reine Gegenwart, aber ohne Romantik oder Erleuchtung, nein, ganz schier. Da ist nichts Faszinierendes dran. Eine Entschleunigung, die im Stillstand endet. Nicht das, was sich der vom Burnout bedrohte Westler unter einer Lektion "Entschleunigung" vorstellt. Es gibt nichts zu lernen. Alles, was sich da unten abspielt, ist offensichtlich und belanglos. Für den Fremden aus Europa gibt es keinen Weg, der dort unten auf diese Kreuzung führen könnte. Er wird dort nie ankommen, völlig ausgeschlossen.Konso ist immerhin noch saftig grün, auf dem Markt werden Obst und Gemüse aus der Umgebung verkauft, es gibt Mehl und Brot. Ein Leben, von dem die Menschen am Turkana-See in Nordkenia nur träumen können. Hier ist die Vegetation einem verbrannten Niemandsland gewichen, in dem einige Stämme in trostlosen Dörfern das Überleben meistern.Das Seewasser ist zu salzig, als dass sie damit auch nur einen Tomatenstrauch oder eine Gurkenstaude wässern könnten. Die Menschen leben in Hütten, die wie fragile, übergroße Graspillen am Seeufer stehen. Auf einer trockenen Landzunge fristet eine der letzten beiden Elmolo-Gemeinden ihr Dasein, ein Stamm, von dem nur noch 300 Angehörige übrig sind. Ihre Sprache ist bereits ausgestorben, heute sprechen sie Turkana.Kein Baum, der in diesem Dorf von Fischern Schatten spendet. Zum Frühstück gibt es Porridge, zum Abendessen Stockfisch mit Brot. Tag für Tag. Nur Weihnachten habe es für das ganze Dorf Gemüse gegeben, sagt der junge Mann, der uns herumführt. Im Unterschied zu den anderen Stämmen der Region, den Gabra, Turkana, Rendile oder den Samburu, hätten die Elmolo keine Kamele, von denen sie frisches Blut abzapfen können, um damit ihren Vitaminbedarf zu decken. Manche Kinder haben deshalb verkrüppelte Füße.Hinter StacheldrahtAm Turkana-See enden die staubigen Pisten, die man nicht mehr Straßen nennen kann. Eine Schule gibt es immerhin, aber der Unterricht nach den Ferien kann noch nicht beginnen, weil der Lehrer fehlt. Wahrscheinlich sitzt er in North Horr fest und wartet auf einen der wenigen Trucks, die ein paar Kisten Bier, Soda und Lebensmittel liefern. "Das hier ist nicht Kenia", sagt ein Mann in Loyangalani, dem größten Dorf am Ostufer des Sees, dessen Ende man nicht sehen kann. Wie eine große, tote Meeresbucht liegt er da. Eine heiße Brise weht von den Bergen herunter. Kenia, das ist vor allem Nairobi und liegt hinter den Bergen, weit weg.Als wir schließlich Tage später dort ankommen, staunen wir nicht schlecht: Es gibt Wolkenkratzer, Staus, Supermärkte, Buchhandlungen, Kinos. Nairobi ist die Metropole Ostafrikas, eine von fünf UNO-Städten weltweit. Der internationale Diplomatenzirkus muss anscheinend auf nichts verzichten.In einem Café schlage ich eine Tageszeitung auf. "Drei Gangster gelyncht", lautet eine der Schlagzeilen an diesem Tag. Auf dem Lande in Kenia wird offenbar nicht lange gefackelt. Es geht auch ohne Polizei und Rechtsstaat. Plötzlich Geschrei draußen auf dem Bürgersteig, ein Mann rennt vorbei, drei, vier andere sind ihm auf den Fersen. "Der hat was gestohlen, die bringen ihn um", sagt der Kenianer am Nebentisch knapp und liest weiter in seiner Zeitung.Die Straße vor dem Café gerät in Bewegung, ich stehe auf, schaue der Meute nach, die jetzt mit jedem Meter anschwillt. Wachleute kommen aus den Eingängen von Banken und Läden und schließen sich der Verfolgungsjagd an. Vorbei ist es mit der Beschaulichkeit. Schon haben sich an die hundert Passanten in der Straßenflucht versammelt, hinter einem querstehenden Müllwagen ertönen wütende Rufe und Beschimpfungen.Vorsichtig bahne ich mir den Weg durch die Menge, da vorn in ihrer Mitte klafft eine Lücke, umgeben von hasserfüllten Gesichtern, die hinunter auf den Bürgersteig starren. Ich erhasche einen Blick durch die Körper und Beine, ein Mann liegt am Boden, Fußtritte prasseln auf ihn ein. Einige ältere Männer und Wachleute versuchen ihn abzuschirmen, aber die Menge scheint außer Rand und Band. Irgendwie schaffen sie es doch, den Verdächtigen auf die Beine zu stellen. Er blutet an der Stirn. Rotz und Wasser laufen ihm übers Gesicht. Er zittert am ganzen Leib, während ihm Verwünschungen entgegenschlagen. Dann wird er in einen Hauseingang gebracht, und die Menge beruhigt sich langsam. Nach drei Minuten ist der Spuk vorbei, und alle gehen wieder ihren Geschäften nach. Der Vulkan Nairobi hat kurz sein anderes Gesicht gezeigt.Was geht hier wirklich vor? Die Gesichter der Großstädter verraten Anspannung, nur selten huscht ein Lächeln darüber. Wer Zeit hat, flaniert nicht, sondern lauert. Denn wer Zeit hat in einer Stadt wie Nairobi, ist ganz unten. Auf der Straße. Im Café sitzen, sich Geschichten erzählen oder über Gott und die Welt diskutieren ist ein Luxus, den sich hier niemand leisten kann.Je weiter wir in den südlichen Teil der Stadt kommen, desto roher erscheint der Alltag, desto weiter klafft die Lücke zwischen dem bloßen Überleben der Vielen und dem teilweise obszönen Reichtum der Wenigen. Nairobi, das ist der permanente Belagerungszustand. Die Reichen und die Weißen verschanzen sich in Stadtteilen wie Westlands hinter meterhohen Mauern, auf denen unter Strom stehender Nato-Draht gezogen ist. Und die Angestellten, die Verkäufer und Kellner? Wovon träumen sie, wenn sie abends in ihren heruntergekommenen Vorstädten angekommen sind? Sehnen sie sich nach den lebensarmen, ereignislosen Dörfern in Samburuland oder Kikuyuland oder hoffen sie, irgendwann noch die Abzweigung zum Wohlstandsleben der Moderne zu finden - hinter Stacheldraht? Ich werde den Verdacht nicht los, dass Nairobi die Zukunft des globalen Kapitalismus sein könnte.
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