"Wir luhren hier", sagt Valeria, 78, und grinst so breit, dass ihr einziger Zahnstoppel wie der Hauer eines Nagetieres hervorsticht. Valeria und ihr Mann warten aufs Mittagessen in der Kantine. Über dem modernen Speisesaal hängt die Luft wie eine Saugglocke aus Schweiß und deftiger Erbsensuppe mit Einlage. "Weißt du, Kindchen, Deutschland ist scheen". Die Worte der Wolgadeutschen rollen in einem eigenartigen Singsang auf und ab, "Deutschland und Russland, das ist wie Tag und Nacht. Hier ist alles so sauber. Ich habe immer gehabt Kihe und die Ziegen. Wenn draußen ist Frühling, wir missen Brot säen. Hoffentlich gibt man uns ein scheenes Stück Land." Über 40 Jahre sind Valeria und ihr Mann in den Schacht gefahren, Kohle schaufeln in Brigadearbeit.
Faschist! Faschist! Das war sie, das riefen die anderen. Anfang der vierziger Jahre war das, gerade 15 Jahre war sie alt, als sie mit ihrer Familie aus ihrem Haus an der Wolga vertrieben wurde. Mitnehmen durfte sie so gut wie nichts. Eiskalt war es. In Karaganda fährt man in die Grube. "Immer dunkel, Licht elektrisch, manchmal kaputt", sagt Valeria. Vielleicht altert man langsamer ohne Sonnenlicht, fast unheimlich wirkt die glatte, weiße Haut mit den wenigen Falten. "Ich habe mein Leben gehabt. Jetzt bin ich alt, wie Stepan", sagt sie und zeigt auf ihren Mann. Bleich ist auch er; teilnahmslos blickt er mit blauen Augen um sich. Die vielen Menschen, die sich in der Schlange vor der Essensausgabe drängeln: Hutzelige Frauen mit bunten Kopftüchern, Männer mit schlurfigem Gang in Blousons, auf denen "West", "Sporting Life" oder "New" steht, nervöse Teenager jagen um die Tische, kleine Mädchen, die aussehen, als ob sie gleich zur Klavierstunde müssen, Mütter, deren Make-Up einer anderen Zeit entsprungen scheint, blaue Lider, rosa Lippen, die Haare in Heimdauerwelle malträtiert. Kaum jemand spricht. Die Löffel klappern ihr ewiges Lied in der Kantine, die neben den Kirchen der Mittelpunkt des mehr als sechs Hektar großen Lagers ist.
Alles ist ordentlich hier, die Rasenkanten akkurat, die Spielplätze intakt, die Blumen stehen in Rabatten. Kleine Straßen ordnen die Fertighausbaracken. Nur die hinteren Hütten aus den fünfziger Jahren erinnern noch daran, dass die Geschichte des Lagers begann, als die der anderen Lager endete. Seit es im September 1945 auf Anordnung der damaligen britischen Besatzungsmacht zur Durchschleusung und ersten Betreuung von ehemaligen Kriegsgefangenen eingerichtet wurde, dient das Durchgangslager Friedland zur Erfassung und Weiterleitung von Flüchtlingen. Den Ort hat man gewählt, weil Friedland an der Schnittstelle der britischen-, amerikanischen- und sowjetischen Besatzungszone lag. Anfangs kamen Kriegsgefangene, Heimkehrer, später auch Boat People. Heute nimmt das Grenzdurchgangslager vor allem Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf. Rund 4,4 Millionen Aussiedler wurden seit 1950 in Deutschland aufgenommen, die Hälfte davon kam über Friedland.
Für viele ist es der erste Tag in Deutschland, der erste Tag im neuen Leben, auch für Valeria, ihren russischen Mann, ihren Sohn Volodja und seine noch junge Frau. Bis auf Valeria, die nach ihrem Deutsch kramt, sprechen alle russisch. Gestern Nacht hat sie der Bus vor den niedrigen Baracken in Friedland ausgespuckt, zusammen mit 90 anderen Passagieren, aus Almaty, Karaganda, Omsk, Kasachstan, über 13.000 Kilometer entfernt. Zweimal mussten die Reifen gewechselt werden. Waren es vier, waren es fünf Tage und Nächte, mit dem Schnaufen des Busses, den weinenden Kindern, den hustenden Alten? Valeria kann sich nicht mehr erinnern. Kasachstan ist weit weg und das ist für viele erst einmal gut so. Jetzt ist alles egal. Jetzt sind sie hier.
"Wir wissen nie, wie viele kommen, Betten haben wir genug", so der Leiter der Einrichtung, Heinrich Hörnschemeyer. Seit 15 Jahren sorgt der joviale Mann dafür, dass alles hier wie am Schnürchen läuft. 2.600 doppelstöckige Schlafgelegenheiten stehen bereit, 1.000 sind belegt. Im vergangenen Dezember wurde der viermillionste "Heimkehrer" gefeiert. Spätaussiedler sind so etwas wie späte Kriegsfolgen. Nach dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1992, Paragraf 4, dürfen sie kommen: hauptsächlich Russlanddeutsche, 58.000 waren es 2004, und ein geringerer Anteil jüdischer Emigranten. Die großen Auswanderungswellen begannen mit der Perestroika. Davor war es undenkbar, dass die deutsche Minderheit mit dem Vermerk im Pass den Schutz der Sowjetunion hätte aufgeben dürfen. "1994 war Spitze", so Hörnschemeyer, "da kamen 213.214 Menschen aus der ehemaligen UdSSR in die Bundesrepublik." 1989 toppten die Polen die Zahl mit 250.340 Menschen. "Die Zahlen der Ankömmlinge werden durch die Neugestaltung des Zuwanderungsgesetzes gewaltig sinken. Zudem wird sich das biologisch erledigen," sagt Hörnschemeyer und berichtet von Familien, die ihre Wohnungen und Arbeitsstellen gekündigt, die alle Brücken abgebrochen haben - und dann stirbt der Großvater oder die Babuschka auf der Reise, die Eintrittskarte nach Deutschland ist verwelkt. "Solche Schicksale haben wir so drei, vier Mal im Jahr. Schön ist das nicht." Oder wenn die deutschen Behörden nicht mitspielen, obwohl doch alles schon geregelt war; fünf Jahre dauert es, bis der Antrag von deutscher wie von russischer Seite abgesegnet ist. Bisher hat es gereicht, wenn ein Familienangehöriger vor dem Bundesverwaltungsamt nachweisen konnte, dass er oder sie deutsche Wurzeln hat; schon konnte die gesamte Familie mit einreisen. Nun müssen jede und jeder - Kinder bis zehn Jahre sind ausgenommen - einen bestandenen Sprachtest nach Standard des Goethe-Instituts nachweisen. Schwierig, einen Sprachkurs zu besuchen, wenn man irgendwo in der Steppe auf dem Dorf aufwächst, wo die Straße im Sommer staubt und sich jedes Jahr in einen schlammigen Brei verwandelt, der einen nicht loslassen will. Aber der Entschluss zu gehen, ist da, trotz der vielen warnenden Hinweise der Verwandten, die den Sprung schon gewagt haben, dass hier auch nicht alles rosig sei - erst recht nicht, wenn man sich sein Leben neu aufbauen muss. Wie es in Deutschland wirklich aussieht, das erfahren die Familien früh genug. Hier bei uns sollen sie sich freuen, dass sie angekommen sind," sagt Hörnschemeyer.
Der erste Tag im Grenzdurchgangslager ist Stress. Ab sechs Uhr morgens geht es los: Warten in der Anmeldung, Heimkehrerstraße 18. Das Licht aus den Neonröhren ist diffus, auf den braunen Sitzschalen schieben sich gebeugte dunkle Wintermäntel gegeneinander, der Blick geht auf den Boden, die Hände umklammern Pässe und Papiere. Herr Kleinsorge arbeitet hinter dem Schalter. Geduldig drückt der geborene Friedländer immer wieder die Gegensprechtaste. Russisch kann er mittlerweile radebrechen. Hier bei ihm müssen die Ankommenden die ersten Formulare ausfüllen, dann gibt es die Kontrollkarte, die alle mit sich führen und bei jeder Gelegenheit vorweisen müssen. "Viele haben Angst, etwas falsch zu machen", so Kleinsorge, "die trauen sich noch nicht mal, richtig mit dem Stift aufzudrücken." Im Lager geht der schale Witz um: Sagst du einem Russlanddeutschen, hier, warte mal, und vergisst ihn, dann sitzt er noch fünf Stunden später da. "Warten, das lernst du hier während der Woche im Lager", sagt Kleinsorge.
Nach der Anmeldung geht´s zum Röntgen, um TBC-Verdacht auszuschließen. 20 Verdachtsfälle pro Monat wurden im vergangenen Jahr verzeichnet, bei zehn von ihnen war es ernst. Besonders am Wochenanfang verknäult sich die Schlange vor dem Röntgencontainer mit der der Arbeitssuchenden. Antrag auf Geldleistungen, die Arbeitslosenmeldung. Dann kommt der Zittergang zum Bundesverwaltungsamt, ob auch alle Papiere beisammen sind? Wer will, hat anschließend Gelegenheit, dem Bundesnachrichtendienst seine Geheimnisse mitzuteilen; der hat hier in Friedland einen eigenen Wartebereich und immer ein offenes Ohr. Für die meisten ist das eher uninteressant, sie wollen viel lieber durchsetzen, dass sie zu ihren Verwandten ins Bundesgebiet ziehen dürfen. Doch sie werden je nach Bevölkerungsdichte und Aufnahmequote den 16 Bundesländern zugeteilt, da hilft kein Wünschen.
Und endlich dann die Zahlstelle: 11 Euro Betreuungsgeld bekommt jeder. Und neue Kleidungsstücke im Wert von 25 Euro, der Rest stammt aus dem wohl sortierten Fundus des Roten Kreuzes. Vielleicht sehen sich deshalb hier alle ein wenig ähnlich. Nachmittags um 16 Uhr ist im Lager Feierabend. Viele Familien schlendern die gerade Straße auf und ab, bis über die Bahnlinie traut sich kaum einer. Der vollbärtige Chef von Edeka freut sich übers florierende Geschäft, Bier und Schnaps gehen gut. "Klauen tun nur die, die schon länger hier sind und am Wochenende zu Besuch kommen", meint er und streicht über seinen zahnarztweißen Kittel.
Einen Katzensprung entfernt, ein paar Kilometer weiter in Göttingen auf der Parkbank bei den roten Häusern sitzt Sergej (20) wie eine überdimensionierte Kugel, die jemandem zu schwer geworden ist, als dass er sie noch irgendwo hinrollen wollte. Hier wohnt kein Deutscher freiwillig. Zigarettenzählen. Langsam rollen die weißen Stengel von einer seiner riesigen weißen Hände in die andere. Acht Stück West. Damit kommt der dicke Junge aus Novosibirsk noch irgendwie über den Tag. Über den muss er ja kommen, auch über diesen. Obwohl er sie nicht mehr auseinander halten kann, die Tage. Denn sie sind immer gleich. Die dumpfen, stumpfen Gefühle, die Depressionen. Arbeit hat niemand in der Familie gefunden. Die meisten, die eintreffen, hatten Jobs als Hilfsarbeiter, als Traktoristen. Irgendwie sind sie über die Runden gekommen. Zwei Jahre sind sie jetzt hier in Göttingen. In der neuen Schrankwand steht das colorierte Hochzeitsbild der Eltern. Ein Mann und eine Frau wie aus einer anderen Welt, wie aus einer anderen Zeit. Alles ist sauber, alles steht an seinem Platz.
Die Tochter trägt Trainingshosen und erzählt, wie sie versucht, deutsche Freunde zu finden, Anschluss, weg von einer manisch-depressiven Mutter. "Hier in Göttingen gibt es gute Medikamente", sagt die ehemalige Kolchosenleiterin und blickt ins Leere. Immer hat sie gearbeitet und gearbeitet. Mit der Ankunft in Deutschland hat sie einfach aufgehört zu sprechen, aufgehört, sich zu bewegen. Verweigerung auf der ganzen Linie. Der kasachische Himmel war viel höher und die Sterne blinkten anders, heller. Was morgen ist, wie es weitergehen wird, weiß niemand. Sergej krault sich am Hosenbund. Im russlanddeutschen Ghetto in Göttingen ist ein Tag wie der andere. In Zukunft gibt es noch viele davon.
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