Die Jugendlichen von Fridays for Future treiben die Politik vor sich her, aber an der Wahlurne ein Zeichen zu setzen, wird ihnen verwehrt. Zumindest, wenn es um Europa- oder Bundestagswahlen geht und sie jünger als 18 Jahre sind. Bei Kommunalwahlen sieht das oft anders aus, in elf Bundesländern dürfen 16-Jährige ihre Stimme abgeben, in vier Ländern gilt das sogar bei Landtagswahlen. Ist es da überzeugend, Jugendliche auszuschließen, wenn es um Europa oder den Bund geht? Keinesfalls, findet Laura Kurz, die mit 15 aus Unzufriedenheit mit der Bildungspolitik den Verein „Demokratische Stimme der Jugend“ mitgegründet hat. „Vor 100 Jahren kam das Frauenwahlrecht. Jetzt ist es an der Zeit, dass auch Kinder und Jugendliche wählen dürfen“, sagt sie. „Sonst können wir nicht sagen, dass wir in einer Demokratie leben, sondern es beim Namen nennen: Gerontokratie.“ Kurz fordert alle Minderjährigen auf, ihr Wahlrecht einzuklagen, vor den Europa-Wahlen hat sie dafür auch bei den Demos von Fridays for Future getrommelt. Sie und ihre Mitstreiter folgen einem akribischen Fahrplan, der ihr Anliegen bis vor das Bundesverfassungsgericht bringen soll.
In Stuttgart hat sich Laura Kurz zunächst vor den Europawahlen mit einem ausgefüllten Musterschreiben bei der Gemeinde beschwert, weil das Wählerverzeichnis unvollständig sei: „Ich als Einwohnerin werde dort nicht als Wählerin aufgeführt“, hieß es in dem Schreiben. Der Ausschluss Unter-18-Jähriger sei verfassungswidrig.
Im zweiten Schritt haben Kurz und andere Minderjährige gegen die erwartungsgemäße Zurückweisung der Beschwerde Einspruch eingelegt. Dieser Einspruch wurde ebenfalls zurückgewiesen, die nächste Beschwerde musste dann bis spätestens zwei Monate nach der Europawahl an den Bundestag gehen. Kurz ist eine von rund 25 Jugendlichen, die beim Bundestag Einspruch gegen die EU-Wahl eingereicht hat. Weist dieser die Einsprüche zurück – wovon auszugehen ist, schließlich geht es um die Gültigkeit der Europawahl – ist eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich. Hier schalten sich dann die Rechtsanwälte ein, die die Kampagne begleiten und die Klagen durchbringen wollen. Dann muss sich Karlsruhe mit der Frage beschäftigen, von welchem Alter an Menschen das Wahlrecht haben sollen.
Kurz und ihre Mitstreiter stützen sich bei der Forderung nach dem Wahlrecht für Minderjährige auf ein Gutachten der Rechtswissenschaftler Hermann Heußner von der Hochschule Osnabrück und Arne Pautsch von der Hochschule Ludwigsburg, das sich Ungereimtheiten in deutschen Gesetzestexten vorknöpft. Sie kommen zum Ergebnis, dass der Ausschluss von etwa 530.000 deutschen 17-Jährigen von den Europawahlen verfassungswidrig ist. Um Menschen, die jünger sind als 17 Jahre, geht es da noch nicht. Deren Ausschluss könnte auch verfassungswidrig sein.
Jugend ohne Mitsprache
Für die Bundestagswahl gilt nach Artikel 38 Absatz 2 im Grundgesetz, dass nur wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Zum Wahlalter bei der Europawahl sagt es nichts. Im Europawahlgesetz ist zwar ein Wahlmindestalter von 18 Jahren festgelegt, doch: „Das ist ein Gesetz, das der deutsche Bundestag verabschiedet hat, und keine Verfassungsvorschrift. Der einfache Gesetzgeber darf in ein fundamentales Recht wie das Wahlrecht aber nur eingreifen, wenn zwingende Gründe das gestatten“, sagt Heußner. „Ein zwingender Grund, ein solches Gesetz zu verabschieden, ist mangelnde Einsichts-, Urteils- und Kommunikationsfähigkeit.“ Studien zeigten, dass 17-Jährige diese Fähigkeiten hinreichend besitzen. Laut Heußner fehlen dem Gesetzgeber deshalb die zwingenden Gründe, das Europawahlrecht von 17-Jährigen zu beschneiden.
„Wir haben im Augenblick die Situation, dass Minderjährige die Pflicht haben, fast alle Gesetze, die der Bundestag erlässt, zu beachten. Gleichzeitig haben die Jugendlichen keinerlei Mitspracherecht, nämlich übers Wahlrecht an diesen Gesetzen durch die Wahl der Abgeordneten mitzuwirken“, so Heußner. „Kinder und Jugendliche erliegen dem Schicksal, dass alle Folgen der Regierungspolitik in den nächsten 80 Jahren auf sie zurückfallen. Während die Alten diese Folgen kaum noch erleben werden, bestimmen sie die Zukunft der Jugendlichen“. Im Gutachten schreiben er und Pautsch, basierend auf Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, es sei davon auszugehen, dass hierzulande etwa 500.000 und mehr volljährige demente Wahlberechtigte leben, denen die notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit komplett verlorengegangen sei. Jung gegen alt, krank gegen gesund? Spielt man damit nicht gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aus? Nein, so sei das nicht gemeint, sagt Heußner. „Aber wenn es unabhängig von der Einsichtsfähigkeit ein Wahlrecht bis zum Lebensende gibt, kann man auch fragen, warum gilt es nicht von Geburt an?“ Er verweist auf die Linkspartei in Sachsen und andere Organisationen, die das Wahlalter Null fordern. Gut zwei Monate vor der Landtagswahl hatte Sachsens Linke das ins Programm aufgenommen (der Freitag 28/2019). Säuglinge und Kleinkinder an die Wahlurne? Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat jüngst durchgespielt, wie das aussehen könnte. Etwa dadurch, dass Eltern stellvertretend für ihre Kinder das Stimmrecht ausüben. Bei aller Euphorie über Wege aus der „Alten-Republik“ bleibt in der FAS für die Frage nach der Benachteiligung Kinderloser kein Platz.
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“: Dass die Fridays-for-Future-Bewegung die Debatte um das Wahlalter befeuern würde, war schnell klar. Im März schlug die damalige SPD-Justizministerin Katarina Barley vor, das Wahlalter auf 16 herabzusetzen. Unterstützung bekam sie von Linken und Grünen. Ralf-Uwe Becks, Bundesvorstandssprecher des Vereins „Mehr Demokratie“, sagt dem Freitag, die Jugendlichen von Fridays for Future hielten der Politik den Spiegel vor. Sein Verein, der schon lange für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 eintritt, initiiert gerade ein Aktionsbündnis. Die Unionsparteien sperren sich gegen eine Herabsetzung, gern mit dem Verweis auf die fehlende Reife. Warum aber dürfen dann 16-Jährige ein Testament unterzeichnen und von 17 an in die Bundeswehr eintreten?
Wenn Minderjährige wählen, stellte 2015 die Bertelsmann-Studie „Wählen ab 16“ fest, ergäbe sich eine Hebelwirkung für eine steigende Wahlbeteiligung bei den darauf folgenden Wahlen: „Politisches Interesse führt zu einer verstärkten Wahlbeteiligung.“ Der Zusammenhang gelte aber auch umgekehrt: Das eigene Wahlrecht und die Wahlteilnahme „stabilisiert und erzeugt politisches Interesse.“ Eine geringe Wahlbeteiligung der Jüngeren schade zudem der Demokratie. Neu ist der Streit ums Wahlalter nicht. 2016 scheiterte ein Klimaaktivist mit dem Anliegen in Karlsruhe. Nun haben Laura Kurz und ihre Mitstreiter das Thema erneut in den Bundestag befördert. Kurz ist inzwischen 18 Jahre alt geworden, an ihrem Ziel, Minderjährigen den Weg zur Wahl zu ebnen, ändert das nichts. In Stein gemeißelt ist das Wahlalter nicht: Unter Willy Brandt wurde es von 21 auf 18 Jahre gesenkt.
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