Warum der WDR Helge Schneider ans Internet verschenkt

Medientagebuch "Helge's Heimatabend" präsentierte beim Jazz-Festival Moers ein Sammelsurium an Unterhaltungselementen. Das live zu übertragen fand der WDR offensichtlich zu riskant

Das Jazz-Festival Moers zählt seit vielen Jahren zu den wichtigsten in Europa. Zu Pfingsten lädt es – früher open air, nun in einem Zelt – an mehreren Tagen zu improvisierter Musik ein. Wie andere Veran­staltungen leidet es unter dem Finanzmangel der veranstaltenden Stadt. Das ­niederrheinische Moers hat in diesem Jahr die Konzerte am Montag gestrichen. Stattdessen gab es: Helge’s ­Heimatabend (nur echt mit dem falschen Apostroph). Helge Schneider präsentierte im Festivalzelt regionale ­Musiker und Unterhaltungskünstler. Im Internet konnte man live Zeuge dieser Veranstaltung sein. Denn das Jazz-Festival hat, nachdem der WDR seine Fernsehübertragungen eingestellt ­hatte, die Sache in die eigene Hand genommen.

Mitzuerleben war ein Sammelsurium an Unterhaltungselementen. Es traten neben einem Männergesangsverein in klassischer Bergmannstracht ein ­singender Koch, die Big Band eines benachbarten Gymnasiums, zwei Sportler eines Fechtclubs, eine Gambenspielerin, eine Frau mit Nasenflöte und ein Hund auf, der auf der Bühne ein ­Gemälde pinseln sollte, was er aber dann aus Unlust unterließ. Zusammengehalten wurde all das von Helge Schneider, der jeden der Beteiligten ­anfrotzelte, ohne je beleidigend zu werden. Er selbst steuerte zusammen mit seinem Schlagzeuger Willy Ketzer ­mehrere Songs bei und unterstützte manchen musikalischen Auftritt am Klavier. Besonders in der experimentellen Lust des Gitarristen Tom Waschat, der seine Songs angeblich auf isländisch verfasst, oder der Gambenspielerin Katrin Mickiewicz, die ihr Instrument wie einst Hendrix seine Gitarre sirren lässt und dazu in einer Art ­Scatgesang ihre Stimme ertönen lässt, war die Verbindung zum Jazz-Festival spürbar.

Helge Schneider, der ein seltenes Gespür für die Stimmung eines Publikums besitzt, verhinderte Momente von Pathos, als er den Auftritt des Bergwerk-Chores mit der absurden Frage traktierte, warum im Männergesangsverein keine Frauen mitsängen? Den Kindern im Publikum erzählte er, früher, als alles besser war, hätte es „hitzefrei“ schon ab 15 Grad Celsius gegeben. Und dem Jazz-Festival verkündete er seine Solidarität mit den Worten, er führe schon seit vierzig Jahren hierher, was sicher nicht wahr, aber zumindest möglich gewesen wäre. In seinen besten Szenen erinnerte dieses krude Durcheinander aus Populär- und Avantgarde-Kultur an eine ver­flossene Fernseh-Show, die 1990/1991 der WDR veranstaltete. Sie hieß Off-Show und wurde im Dritten Programm live ausgestrahlt. Moderator der ähnlich bizarren Mischung aus Jazz, Popmusik und Gesprächen war damals Reinhold Beckmann, noch ehe er seine große Fußballkarriere bei den Privaten begann. Als Außenreporter der be­sonderen Art steuerte damals ein junger Comedian erste vollkommen durchgedrehte Beiträge bei. Seine Name: Helge Schneider. (Das Duo Beckmann/Schneider kann man sich heute kaum noch vorstellen.)

Ideenstifter der Off-Show neben dem verstorbenen WDR-Mann Knut Fischer war Reinhard Michalke, der heute das Festival Moers leitet. Helge’s Heimatabend feierte seine Premiere im Internet, weil der WDR zwar in seinem Dritten Programm heute jeden Prominenten aus Nordrhein-Westfalen abfeiert, sich aber auf das Risiko eines Live- Programms nicht mehr einlässt. Ohne es zu merken, verliert hier das klassische Fernsehen seine letzten treuen Zuschauer ans Internet.

Dietrich Leder ist Professor für Medienwissenschaft in Köln und veröffentlicht regelmäßig sein Tagebuch an dieser Stelle

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden