Warum die Küken sterben müssen …

Tierschutz Nun ist es höchstgerichtlich beschlossen: Das Schreddern und Vergasen männlicher Küken bleibt (vorerst) geltende Praxis
Männliche Küken: Das Urteil ist in ethischer Hinsicht eine Bankrotterklärung
Männliche Küken: Das Urteil ist in ethischer Hinsicht eine Bankrotterklärung

Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Der Unterschied zwischen Verfassungsanspruch und -wirklichkeit wird bei kaum einem anderen Staatsziel so offensichtlich wie beim 2002 im Grundgesetz verankerten Tierschutz. Jüngere Fehlentwicklungen, etwa beim Transport von Rindern in Drittländer außerhalb der EU oder der betäubungslosen Ferkelkastration, erstrecken sich längst nicht mehr auf Einzelfälle. Inzwischen sind die Auswüchse, befördert durch das Effizienzstreben in der industriellen Massentierhaltung, systemischer Natur, wie gerade die Diskussion um das millionenfache Kükenschreddern und -vergasens belegt.


Nachdem die ehemalige rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen diese Praxis per Erlass verboten hatte und die Seite der Landwirtschaft dagegen geklagt hatte, fiel heute das Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts in der Sache. Was dabei heraus kam, lässt sich mit einem halbgaren „Ja, aber“ umschreiben: Eigentlich seien die wirtschaftlichen Erwägungen der Großbetriebe kein hinreichender Grund zur Legitimation des massenhaften Leidens der Küken, gleichwohl sei es hinnehmbar, bis geeignete Alternativen vorhanden wären. Die Entscheidung erweist sich in gleich mehrfacher Hinsicht als problematisch. Denn es ist längst nicht so, dass es keine anderen Optionen gäbe.

Zum Beispiel ReWe

Viele Betriebe, zumeist aus dem Bereich der ökologischen Landwirtschaft, nutzen etwa neue Hühnerrassen, bei denen die männlichen Küken zur Fleischproduktion und die weiblichen zur Eierherstellung eingesetzt werden. Andere ziehen die männlichen Tiere mithilfe erhöhter Preise auf die Eier ihrer Schwestern auf. Und selbst die Technologie gibt schon andere Möglichkeiten wie die „In-Ovo-Geschlechtsbestimmung“ zu erkennen: Damit das männliche Geflügel erst gar nicht das Licht der Welt (oder besser: das künstliche der Stallinnenräume) erblickt, wird es bereits im Brut-Status beseitigt. Diese Lösung gehört sicherlich zu den vergleichsweise besseren, weil sie in jedem Fall das geringste Leiden erzeugt. Zumindest der Kölner Rewe-Konzern plant in Kürze die Nutzung dieser Methode unter dem Label „respeggt-Freiland-Eier“.


Sieht man von diesen vom Gericht nicht ausreichend gewürdigten Potenzialen ab, ist das Urteil in ethischer Hinsicht eine Bankrotterklärung. Zahlreiche naturwissenschaftliche Studien der letzten Jahre belegen eine genetische und verhaltensbezogene Nähe vieler sogenannter Nutztiere zum Menschen. Nachdem namhafte Philosophen wie René Descartes oder Immanuel Kant noch bis in die Moderne hinein versucht hatten, animale Mitwesen abzuwerten, weil sie beispielsweise über keine Sprachefähigkeit oder kein Bewusstsein verfügten, lässt sich gegenwärtig das meiste solcherlei Argumentationen widerlegen. Auch Hühner verfügen über wesentliche kognitive und affektive Fähigkeiten, die zumindest eine betäubungslose Tötung (im Babystadium) als fragwürdig erscheinen lassen.

Neben Empathie sollten Angst- und Schmerzempfinden eine Rolle spielen, wenn es darum geht, entsprechend des Grundgesetzes „vernünftige“ Gründe für das Schreddern oder das Vergasen von Küken anzuführen. Für Tierrechtler wie Tom Regan oder – im deutschsprachigen Raum – Bernd Ladwig gebietet die basale Verwandtschaft selbst „einfacherer“ Tiere mit dem Menschen die Anerkennung grundlegender Rechte. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Chance nun vertan, männlichen Küken zumindest die kurze Zeit des Aufwachsens zu gewähren oder ihnen alternativ bereits vor der Geburt ein Dasein in dunklen Zuchtanalgen zu ersparen. So oder so bleibt die Entscheidung hinter dem Stand des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses zurück.

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