Warum Sängerinnen wie Gülşen in der Türkei zu Feindinnen der Nation erklärt werden
Kein Witz Die türkische Popsängerin Gülşen wurde wegen einer flapsigen Bemerkung verhaftet und nun unter Hausarrest gestellt. Ihr Fall reiht sich in eine Musikgeschichte der Türkei ein, die sich vornehmlich über Gefängnisse erzählen lässt
Es ist gerade einmal gut ein halbes Jahr her, da wurde gegen die Sängerin Sezen Aksu bei der Generalstaatsanwaltschaft Ankara eine Strafanzeige wegen „Beleidigung religiöser Werte“ eingereicht. Die Zeile „Grüßt mir die unwissenden Eva und Adam“ wurde ihr als Prophetenbeleidigung ausgelegt. Nun hat die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Pop-Sängerin Gülşen eingeleitet. Wegen „Beleidigung und Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit“ nach Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuchs. Seit vergangenem Donnerstag saß sie in Untersuchungshaft, jetzt wurde sie entlassen und unter Hausarrest gestellt.
Einige İmame (Vorbeter) und Anwälte hatten zuvor eine Strafa
ine Strafanzeige gegen die Sängerin erstattetet, weil jüngst auf den sozialen Medien ein Clip aus einem Konzert im April kursierte, in dem sie den Berufsstand der İmame denunziert haben soll. Auf der Bühne macht sich die Sängerin über ihren Keyboarder, der den Spitznamen „İmam“ trägt, lustig. Seine Perversionen habe er aus der İmam-Hatip-Schule, also jenen staatlichen Berufsfachgymnasien, die İmame und Prediger in der Türkei ausbilden. Noch bevor die Polizei sie in ihrer Wohnung vor ihrem Ehemann und ihrem fünfjährigen Sohn festnimmt, haben Hashtags wie „Verhaftet Gülşen“ (#GülşenTutuklansın) bereits solche Forderungen gestellt. Der Sprecher der Regierungspartei AKP, Ömer Çelik, hat ihren Scherz da schon als Hassverbrechen vorverurteilt.Der Jux, mit dem die Sängerin das Publikum zwischen zwei Songs unterhielt, erfüllt für einige Rechtsexpert*innen keineswegs den Tatbestand des Artikels 216. Ein Konzert, das vor vier Monaten stattgefunden hat und damals keine Empörung verursachte, könne nicht als akute Gefahr für die Öffentlichkeit – ein definierendes Kriterium des Artikels 216 – geltend gemacht werden. Darüber hinaus beinhaltet das Gesagte weder Hass noch Gewalt. Und selbst wenn die Künstlerin durch ihre Worte die Bedingungen für die Anwendung des Gesetzes erfüllt hätte, wäre ihre Inhaftierung in welcher Form auch immer nicht gerechtfertigt. Denn niemand darf der Freiheit wegen eines einzigen Wortes beraubt werden.Eigentlich soll Artikel 216 vulnerable Bevölkerungsgruppen schützenWas Rechtsexpert*innen darüber hinaus feststellen ist, dass der Artikel 216 zusehends von Staatsanwält*innen extra weit ausgelegt wird, um nicht strafbare Verhaltensweisen justiziabel zu machen. Zudem wird ein Gesetz, das eigentlich die vulnerablen Bevölkerungsgruppen des Landes, wie Kurd*innen, Personen mit armenischen und griechischen Vorfahren, Sinti*zze, Rom*nja, Alevit*innen, Jüdinnen und Juden, Christ*innen, Frauen und LGBTQI+-Personen vor Hass und Gewalt schützen sollte, von der Dominanzgesellschaft instrumentalisiert. Sie verkehren die Absichten des Paragraphen, um Minderheiten weiterhin drangsalieren zu können.Gülşen wird vordergründig für die Beleidigung der Institution der İmam-Hatip-Schulen kriminalisiert, aber sie wird auch als emanzipierte Frau abgestraft. Daran haben Beobachter*innen des Falls keinen Zweifel. Ihr selbstbestimmter Umgang mit ihrem Körper, die freizügige Inszenierung ihres drahtig, durchtrainierten Körpers, ihre offene Unterstützung der LGBTQI+-Community verletzt das religiös-sittliche Empfinden jener, die einseitig eine intolerante, sunnitisch-konservative Moral durchsetzen.Mit ihrer Verhaftung reiht sich Gülşen in eine Musikgeschichte der Türkei ein, die sich vornehmlich über Gefängnisse erzählen lässt. Zahlreiche berühmte Sänger*innen des Landes von Bülent Ersoy bis Ahmet Kaya saßen schon mal ein. Die Regierungspartei AKP und ihre rechtsextreme, ultranationalistische Koalitionspartnerin, die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), machen aus Sänger*innen Feinde der Nation, die weder während ihrer Haft noch nach der Haft geschont werden. Im April 2015 wurde die Sängerin Nûdem Durak verhaftet, weil ihre Konzerte in kurdischer Sprache als Terrorpropaganda ausgelegt wurden. Über die damals 27-Jährige wurde erst eine Haftstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verhängt und später auf 19 Jahre erhöht. Als sei dies nicht schlimm genug, wurden ihr die Bedingungen der Haft erschwert. Ihre Grundrechte auf Besuch, Briefe zu erhalten oder zu telefonieren wurden verletzt. Ihre Bücher wurden beschlagnahmt und ihre Gitarre zerbrochen. Es war das einzige Instrument, dass sie besaß. Sie konnte es sich damals nur leisten, weil ihre Mutter dafür ihren goldenen Ehering versetzen ließ.Polizei stürmte Bestattung von Helin BölekAnfang 2019 wurden die Sängerin Helin Bölek und der Bassist İbrahim Gökçek der Gruppe Yorum verhaftet. Das marxistische Folk-Kollektiv wurde 1985 in der dunklen Periode nach dem dritten Militärputsch von vier Universitätsfreund*innen in Istanbul gegründet und arbeitet seither mit wechselnden Mitgliedern. Um gegen ihre Haft, aber auch die von weiteren Musiker*innen zu protestieren, begannen sie einen Hungerstreik. Am 3. April 2020 starb die Sängerin Helin Bölek im Alter von 28 Jahren an den Folgen des Streiks. Dasselbe galt für İbrahim Gökçek. Er verlor am 7. Mai 2020 im Alter von 39 Jahren das Leben.Selbst bei ihren Trauerfeierlichkeiten nahm die Mehrheitsgesellschaft den Verstorbenen den Respekt und die letzte Ehre. Die Bestattung von Helin Bölek im alevitischen Zentrum im Istanbuler Stadtteil Gazi stürmte die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen und verhaftete etwa 27 Personen. Türkische Faschist*innen drohten, den Leichnam von İbrahim Gökçek, der im zentralanatolischen Kayseri beerdigt wurde, auszuschaufeln und zu verbrennen.Bei dieser Form des Hasses blieb die Staatsanwaltschaft untätig. Sie ermittelten nicht gegen die Täter*innen nach Artikel 216. Selbst wenn vor dem Gerichtsgebäude ein aufgebrachter Mob dazu aufruft, wie im Fall von Sezen Aksu, ihr in den Kopf zu schießen oder ihr die Zunge herauszuschneiden – etwas, was auch der Präsident angedroht hatte und später abstritt – bleiben der Hass, die Gewalt und die Androhung von mehr Gewalt ungeahndet. Ein Justizsystem, das blind für diese Form des Verbrechens ist und allein dem politischen Willen der Regierung folgt, verliert seine Unabhängigkeit und damit die Glaubwürdigkeit. Nicht der Witz von Gülşen – wie passend oder unpassend er auch sei – ist der Skandal, sondern der Verlust der Rechtsstaatlichkeit.
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