Warum eigentlich?

Gastkommentar Das negative Bild über China wird der Wirklichkeit nicht gerecht

Als jemand, der 40 Jahre lang immer wieder nach China gereist ist und inzwischen die meiste Zeit seines Lebens im Fernen Osten verbringt, bin ich bestürzt über den Widerspruch zwischen dem, was ich dort sehe, und dem negativen China-Bild, das so vielen Menschen im Westen präsentiert wird.

China baut eine pulsierende, moderne Gesellschaft auf, hat aber mit vielen inneren Konflikten zu kämpfen, die aus einer turbulenten Vergangenheit stammen. Doch hat dieses Land mehr Menschen aus der Armut befreit als irgendeine Nation zuvor. Die Beschränkungen, die Chinesen und im Land lebende Ausländer noch immer spüren, sind zum größten Teil verständlich, wenn man bedenkt, dass kein anderes Land im 20. Jahrhundert von inneren Zusammenbrüchen und ausländischen Interventionen derart betroffen war wie China.

Vielleicht sollten wir uns vor Augen führen, dass die von China erwarteten Standards in unseren eigenen Gesellschaften erst vor kurzem und zum Teil noch immer nicht vollständig durchgesetzt wurden. In China würde es mehr Eindruck machen, gingen wir mit gutem Beispiel voran, statt desinformiert mit heuchlerischen Argumenten Kritik zu üben. Nach meiner Auffassung gibt es kein Weltanliegen von Belang, das ohne Chinas Zutun gelöst werden könnte. Das sollte uns animieren, kon­struktiv Einfluss zu nehmen und Chinas Engagement als vollwertiger Partner herauszufordern, vor allem beim Klimawandel. Die Chinesen wissen, sie sind eines der davon am meisten betroffenen Opfer. Freilich kann man kaum erwarten, dass sich die Regierung in Peking zu Maßnahmen verpflichtet, die von Ländern - zuallererst den USA - abgelehnt werden, deren akkumulierte Emissionen von Treibhausgasen der Erde unumkehrbare Schäden zugefügt haben. Der Versuch, die Lasten der Klimaerosion China, Indien und anderen Schwellenländern aufzubürden, ist weder fair noch umsetzbar. Das Gleiche gilt für die Neigung, diesen Staaten den Preisschub bei Lebensmitteln, Erdöl und anderen Rohstoffen vorzuwerfen. Die Bedürfnisse der armen, sich entwickelnden Ländern können nicht dem maßlosen Appetit der Reichen geopfert werden.

Wird über Tibet geredet, sollten wir nicht vergessen, dass der Aufruhr im März von Mönchen angeführt wurde, deren traditionelle Privilegien heute eingeschränkt sind, während eine Mehrheit der in Armut und Knechtschaft lebenden Bevölkerung durch die Modernisierung der tibetischen Wirtschaft neue Chancen bekommt. Sicher ist dieser Prozess für viele schwierig und schmerzvoll gewesen, aber beide - Chinesen und Tibeter - setzen den Lern- und Anpassungsprozess fort, um ein Tibet anzustreben, das sein kulturelles und religiöses Erbe erhält und mehr Möglichkeiten für ein besseres Leben bietet. Auch der Dalai Lama erwartet keine tibetische Unabhängigkeit. Die Differenzen mit ihm liegen im Ausmaß der Autonomie, die Tibet innerhalb Chinas erhalten sollte. Es ist fatal, diesen unheilwollen Konflikt in einer Zeit zu schüren, da die Welt nichts mehr als Zusammenarbeit braucht.

Statt einer ideologisch gefärbten China-Kritik zu folgen, sollten Fragen beantwortet werden wie: Warum eigentlich geht es heute einer Mehrheit der Chinesen besser als jemals zuvor? Warum kehren immer mehr Auslands­chinesen in ihre alte Heimat zurück? Warum finden mehr Ausländer in China Lebensbedingungen vor, die sie so überzeugen, dass sie sogar einen Arbeitsplatzwechsel in Kauf nehmen?

Maurice Strong ist Erster Generaldirektor des UN-Umweltprogramm (UNEP)

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