Warum Jan Hofer niemals schweigt

Fernsehformat Der Mensch im Medienzeitalter ist rundum informiert. Man könnte auch sagen: diszipliniert

"Es ist schon merkwürdig", witzelte Karl Valentin einst, "dass jeden Tag gerade soviel geschieht, wie auch in die Zeitung passt". Der Kabarettist muss ein untrügliches Gespür für die Macht der Medien gehabt haben. Denn was auf den ersten Blick nach einem launigen Kalauer ausschaut, wird bei genauerem Hinsehen zu einer medientheoretischen Prämisse: Die Medien haben die Macht, die Tage ins Format zu setzen. Ins Fernsehformat, ins Radioformat oder eben ins Zeitungsformat.

Seit die Massenmedien unaufhörlich senden, umgibt den modernen Menschen ein sich selbst verstärkendes Gefüge aus Reportagen, Nachrichten, Werbespots und Unterhaltungssendungen. Im Effekt dieser medialen Dauertätigkeit wird die sinnlich wahrnehmbare Realität selbst medial. Eine idyllische Wiese wird zum Fußballfeld, spielende Kinder verwandeln sich in Michael Ballack, Torsten Frings, Schweini und Poldi und Oliver Kahn. Die Straße wird zur Markenzone, auf der die Menschen Kleidungscodes wie einst Blicke tauschen. Das unendliche Gespräch dreht sich um die Top Ten der Nachrichtenwelt - um die medial vertraute Ferne. Selbst unmittelbar Erlebtes findet Kommunikationsnischen nur zu den Bedingungen der Massenmedien. Wenn man in Kabul war, als sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt hat, ist für Minuten Aufmerksamkeit gesichert, bevor das Gespräch zur nächsten schlechten Nachricht eilt. Aber wer macht schon Urlaub in Afghanistan?

Dass Menschen trotz der medialen Zurichtung ihrer Umwelt an die Möglichkeit des eigenen, authentischen Erlebnisses glauben, dass von Biografie, Lebensgestaltung und eigener Weltsicht die Rede ist, spricht nicht gegen die These der Überformung der unmittelbaren Realität durch das Mediensystem, sondern dafür.


Machtanalytisch betrachtet, sieht die moderne Welt so aus: Wo Selbstbestimmung drauf steht, liegt das Zaumzeug der Disziplinarmacht drin. Diese Perspektive geht im Wesentlichen auf Michel Foucault zurück, der im Offensichtlichen die Täuschung und im Vernünftigen das Verdächtige sah. Wenn man diese paranoische Umkehrung mitmacht, erscheinen die viel gepriesenen bürgerlichen Freiheiten nicht als Errungenschaften einer auf Emanzipation ausgerichteten Entwicklung der Humangesellschaft, sondern lediglich als Abfallprodukte einer neuen Machttechnologie. Denn was passierte, als die Könige abtraten und die Gesellschaft der propagierten "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" auf die Bühne der Geschichte kam? Es kehrten sich die Sichtbarkeitsverhältnisse um: Die Scheinwerfer der Macht wandten sich vom Monarchen ab und richteten sich auf die dunkle, amorphe Masse der Unterworfenen. Aus der unerträglichen Sichtbarkeit des Souveräns wurde die unerbittliche Sichtbarkeit des Einzelnen, der mit allen Mitteln der modernen Gesellschaft durchleuchtet wird. Von der Vorsorgeuntersuchung über den Datensatz auf seiner Chip-Karte bis zum Ausweis mit biometrischen Koordinaten. Individualisierung nicht als Chance auf Selbstbestimmtheit, sondern als Zwang der Disziplinarmacht, die das Wissen vom Individuum und damit auch das Subjekt selbst produziert.

Die moderne Gesellschaft besteht nicht aus einer bestimmten Zahl von ehedem autonomen Subjekten, die bereit sind, etwas von ihrer Macht an den Leviathan abzugeben und sich im Hobbes´schen Sinn dieser schützenden Instanz zu unterwerfen. Vielmehr sind es die vielfältigen Unterwerfungstechnologien selbst, die Subjekte überhaupt erst hervorbringen. Individualitätszwang, wie er sich etwa in der Forderung nach freier Bildung für alle ausdrückt, ist eine Entäußerungsform der modernen Machttechnologie, ein Modus der Unterwerfung. Freie Bildung für alle heißt, dass niemand, auch nicht der Ärmste der Armen, durch das engmaschige Netz der Disziplinarmacht fallen darf. Individualisierung ist eine Zwangsbeglückungsmaßnahme der nichthierarchischen Gesellschaft.


Zu den klassischen Medien der Macht wie Medizin, Psychiatrie, Militär und Gefängnis sind im vergangenen Jahrhundert die Massenmedien getreten. Ein System, das sich selbst zum Sendezwang verpflichtet. An jedem Abend ist die Tagesschau eine Viertelstunde lang, und noch nie hat Jan Hofer mit der Bemerkung, dass heute nichts weiter Berichtenswertes passiert sei, vor der Zeit seine Blätter zusammengerafft. Wenn Nachrichten tatsächlich aktuell über Neuigkeiten unterrichten würden, wäre es ohnehin viel nahe liegender zu warten, bis etwas passiert, um es dann sofort bekannt zu geben. Doch Wirklichkeit interessiert die Massenmedien nur unter den stark limitierenden Bedingungen der Skandalisierung, Moralisierung und Personalisierung. Ein winziges Fenster verbindet die Redaktionsstuben und die so genannte Welt da draußen, durch das nur regelwidrige, auf Personen zugeschnittene Ereignisse zu sehen sind. Oder wie wäre es, wenn sich die Nachrichten mit allen geglückten Starts und Landungen auf den Flughäfen dieser Welt beschäftigten?

Die hochgradig selektive und immer dramatische Realität der Massenmedien ist kein Abbild der Wirklichkeit, wohl aber der Gesellschaft. Man wird, was man sieht, wusste der Vater der Medientheorie Herbert Marshall McLuhan. So ist es weniger die Funktion der Massenmedien, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, damit sie sich selbst erkennt, sondern ihr ein Bild vor Augen zu führen, an dem sie sich auszurichten hat. Die Disziplinargesellschaft geht mit der totalen Präsenz der Massenmedien in eine neue Runde. Wesentlich perfider und zugleich effektiver besteht das Ziel nicht darin, die erste, unmittelbar wahrnehmbare Realität zu überwachen, sondern darin, eine zweite mediale Realität vorzugeben, an der sich jeder Einzelne zu orientieren hat. Im Zeitalter der Massenmedien sitzt man nicht mehr potentiell im Gefängnis der ersten Realität, sondern man kommt aus der zweiten, medialen Realität nicht mehr heraus. Kein Jenseits der Medien ist in Sicht, so dass die Massenmedien als task force der Disziplinarmacht gehandelt werden. Die Sendemaschinerie der Massenmedien ist effizienter als jeder mittelalterliche Folterkeller. Zwischen beiden Formen der Gewalt liegt ein Quantensprung der Machtausübung: Von der stupiden Marterung des einzelnen Übeltäters hin zur alles ergreifenden Disziplinierung eines jeden Individuums.

Mit dem Buchdruck als basaler Technologie der Massenmedien begann die Normierung bereits. Eine Fülle gleichförmiger typografischer Einheiten in Standardgröße, die Standardseiten bilden, die sich zu Standardkapiteln ordnen und in Standardbüchern - oder Standardzeitungen - zusammengefasst sind. Dieses typografische Prinzip dringt über die Inhalte, die ihm als Trojanisches Pferd dienen, in den Leser ein. Im Zuge der Karriere des Buchdrucks beginnt der Mensch seine Welt so zu sehen, wie es ihm das Medium vormacht: sie in kleinste Einheiten zerlegen, sie klassifizieren, sie analysieren, mit Zahlen versehen, mit Indizes, mit Standardüberschriften und Titeln. Nach demselben Prinzip wird auch jeder Einzelne beschrieben, er wird gemäß der typografischen Vernunft individualisiert.


Bei den elektronischen Medien sind die äußeren Bedingungen noch verbindlicher, denn hier hat es der Endnutzer mit einer autoerotischen Konstellation zu tun: In Fernsehen und Radio sieht sich das Auge beim Sehen respektive hört sich das Ohr beim Hören zu. Die Sinne begegnen ihrer eigenen objektivierten Gestalt. An diesem Sehen des Sehens und Hören des Hörens empfindet der jeweilige Sinn Lust. Eine narzisstische Selbsterregung, die es so schwer macht, wieder auszuschalten. Der finale Druck auf die rote Taste der Fernbedienung wird also nicht aus inhaltlichen Gründen hinausgeschoben. Wäre dem so, müsste man angesichts der täglichen Quotensieger einem ganzen Volk komplette geistige Verwahrlosung unterstellen. Die Sinne werden nicht von den Inhalten erfasst, sondern sie erotisieren sich an ihrem eigenen Gebrauch. So wie der Narziss im Mythos sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Narziss leitet sich von narkosis ab. Er wird durch die Ausweitung seiner selbst narkotisiert, so wie wir betäubt werden durch die Ausweitung unserer Sinne, der wir im Fernsehen zusehen. Wir lassen uns fesseln und haben Mühe, uns im Bildschirm zu erkennen. Wir müssen immer wieder hinschauen, wir werden süchtig nach uns selbst.

So gelingt es den Massenmedien, die Rezipienten an ihr System zu koppeln und die Kommunikation zu überformen. Moderne Kommunikation findet nicht zu den Bedingungen des Menschen, sondern zu denen der Medien statt. Die Massenmedien geben eben nicht nur die Themen der gesellschaftlichen Kommunikation, sondern auch ihre Zentralperspektive vor - und die Zeitstrukturierung natürlich. Stündlich die Nachrichten und täglich die Zeitung, die darüber wacht, dass an jedem einzelnen Tag gerade soviel geschieht, wie sie in Drucklettern bringt. Im Übrigen hat dieser Text 8.917 Zeichen .

Matthias Eckoldt promovierte über das Machtdispositiv der Massenmedien, veröffentlichte Radioessays über Systemtheorie, Konstruktivismus und Medienphilosophie, gab Lehrveranstaltungen im Gebiet Kommunikationswissenschaft an der Universität Greifswald und hält Seminare an der Freien Universität Berlin. 2000 erschien sein Roman moment of excellence bei Eichborn Berlin. In diesem Jahr veröffentlichte er im Kulturverlag Kadmos das Buch: Medien der Macht - Macht der Medien.

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