FREITAG: Herr Blüm, darf ich Ihnen eingangs eine persönliche Frage stellen: Haben Sie Zahnschmerzen?
NORBERT BLÜM: Nein, damit kann ich Ihnen nicht dienen.
Das ist im Hinblick auf die Gesundheitsreform erfreulich für Sie, aber würden Sie nicht Zahnschmerzen bekommen, wenn Sie an Stelle von Horst Seehofer oder Ulla Schmidt wären und den ausgehandelten Kompromiss gegenüber den Bürgern begründen müssten?
Also, meine Zahnschmerzen sind kein guter Indikator für die Politik. Wenn Sie allerdings meinen Kopf fragen, hat die Gesundheitsreform, so notwendig sie ist, eine Lastenverteilung von acht zu eins. Acht Milliarden Euro Entlastung zahlen die Versicherten, für die andere Milliarde ist dann der Rest zuständig. Es gibt weite Bereiche, die von den Reformbemühungen verschont geblieben sind. Wenn ich mir beispielsweise den Moloch Arzneimittelmarkt anschaue: Es gibt Pillen für alles, Pillen zum Schlafengehen, um wach zu werden, Pillen gegen Stress, gegen Passivität, fürs Liebesleben und selbst wenn verhaltensauffällige Kinder "still gelegt" werden sollen, steht eine Pille zur Verfügung. Die Pille ist die Hostie der neuen Pseudoreligion und der Beitrag eine Art Kirchensteuer. Oder schauen Sie sich das Zaubermittel "Wettbewerb" an: Warum nur Wettbewerb bei den Nachfragern, nicht bei den Anbietern, dem Ärztekartell etwa? Ludwig Erhard dreht sich im Grabe herum. Wettbewerb nur bei den Kunden ist eine deformierte Marktwirtschaft.
Auffallend ist, dass bei dieser Gesundheitsreform Härtgefallregelungen weitgehend wegfallen. Zumindest im Arbeitnehmerflügel der Union wird das nicht bejubelt werden.
Gerechtigkeit bedeutet nicht Gleichheit. Dies gilt für Ausweitung von Leistung und bei ihrer Einschränkung ebenso. Es gibt viele, die sich solche Zuzahlungen nicht leisten können, auf die muss man Rücksicht nehmen. Gerechtigkeit heißt differenzieren.
Im Rahmen der Diskussion um die künftige soziale Sicherung ist auch die Pflegekasse ins Schussfeld geraten. Experten, etwa Bernd Raffelhüschen aus der Rürup-Kommission, monieren, dass schon bei ihrer Einrichtung klar war, dass eine Sozialkasse, die an die abhängigen Einkommen angebunden ist, anachronistisch ist.
Diese Todesanzeigen kenne ich! Die Pflegeversicherung war noch nicht im Gesetzesblatt gedruckt, da hat die FDP erklärt, dass sie am Ende des ersten Jahres zahlungsunfähig wäre. Tatsächlich ist die Pflegeversicherung - im Unterschied zur Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung - mit ihrem Geld ausgekommen. Wenn ihre Mittel geringer werden, liegt das daran, dass die Regierung Schröder neue Leistungen beschlossen und im Gegenzug Beiträge gekürzt hat, also mit weniger Geld mehr Ausgaben finanzieren wollte. Mehr Ausgaben, weniger Einnahmen funktionieren aber nur im Märchen.
Zur Ehrenrettung der Pflegeversicherung muss ich sagen, dass mit ihrer Einrichtung erstmals eine fast flächendeckende Infrastruktur von Pflegediensten entstanden ist mit dem Ergebnis, dass mehr Menschen zu Hause versorgt werden. Das ist aus meiner Sicht nicht nur sozial erwünscht, sondern auch billiger. Zum anderen hat sie den Pflegenden, den Samaritern, endlich einen Rentenanspruch verschafft. Früher sind diese Menschen im Alter selbst zu Sozialfällen geworden, ein aus meiner Sicht untragbarer Zustand.
Wenn heute der Zahnersatz und das Krankengeld aus der GKV ausgelagert werden und damit das Ende der paritätischen Finanzierung der Sozialkassen kaum mehr zu leugnen ist, müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, damit der Erste gewesen zu sein, denn Sie waren es, der mit dem Feiertags-Opfer den Lohnabhängigen den größeren Anteil an der Finanzierung der Pflegekasse aufbürdete.
Das ist ein fulminanter Irrtum. Es gibt in der Pflegeversicherung weiterhin eine paritätische Finanzierung. Unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt haben wir eine Entlastung auf einer anderen Ebene geschaffen ...
... die auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen wurde ...
Wir wollten eine Entlastung schaffen für die paritätisch finanzierte Pflegeversicherung. Wir haben kompensiert ...
... zu Gunsten der Arbeitgeber ...
Zu Gunsten wirtschaftlicher Kostenbremse. Auf dem Spielfeld der Sozialversicherung wurde aber nichts verändert.
Es gibt grüne Politiker, die die Pflegeversicherung entweder ganz abschaffen oder sie auf eine breitere finanzielle Grundlage stellen wollen. Aus der Rürup-Kommission dagegen kommt der Vorschlag, das Pflegerisikio privat abzusichern. Welchen der beiden Vorschläge halten Sie für realitätstüchtiger?
Die Privatversicherung wird immer als die große Lösung beschworen, ich habe auch nichts gegen Privatversicherung als Ergänzung der Solidarversicherung, nur schleicht sich die falsche Hoffnung ein, Privatversicherung sei umsonst zu haben. Das ist eine Illusion. Sie funktioniert mit einem risikoabhängigen Beitrags-Leistungs-Verhalten, das können Sie an der Riester-Rente studieren: Frauen erhalten, weil sie durchschnittlich länger leben, für ihre vier Prozent Beitrag eine geringere Rente. Mit Solidarität hat das wenig zu tun. Etwas ganz anderes ist es zu fragen, ob der Arbeitnehmerbegriff, so wie wir ihn kennen, heute noch taugt, um daran soziale Sicherheit zu knüpfen. Es gibt viele Selbstständige, die mindestens so gefährdet sind wie Arbeitnehmer, es gibt Grauzonen wie die Scheinselbstständigen, die Ich-AGs. Die Pflegeversicherung war die erste Versicherung, die den Kreis der Pflichtversicherten auf die Privatversicherten ausgeweitet hat.
Wären Sie im Prinzip also auch dafür, dass andere Einkommen - etwa Miet- oder Kapitaleinkommen - zur Finanzierung herangezogen werden sollen und eine Art von Bürgerversicherung einzuführen?
Na, da muss man erst mal sagen, wofür man ist. Die Leute sollen, höre ich, mehr sparen und Eigenverantwortung übernehmen. Zuerst animiert man sie, Eigenkapital zu bilden, dann soll das wieder abkassiert werden, das ist doch kontraproduktiv. Zum zweiten kommen wir in große Definitionsschwierigkeiten, was da beitragspflichtig werden soll: Was ist ein zusätzliches Einkommen? So eindeutig ist das nicht. Das nur am Rande, mein Haupteinwand ist, dass die modernste Vermögensform - auch unter globalen Gesichtspunkten - die Arbeit ist. Auch Maschinen können Sie nicht essen, wo nicht gearbeitet wird, geht die Volkswirtschaft zugrunde.
Sie plädieren also eher gegen die private Absicherung?
Nein, als Spielbein hat sie ihre Berechtigung, aber ich behaupte, die private kann die gesetzliche Versicherung nicht ersetzen, weder in punkto Sicherheit noch in Sachen sozialer Ausgleich. Da werden Äpfel mit Birnen verglichen, denn keine private Rentenversicherung zahlt beispielsweise gleichzeitig auch Witwenrenten, Erwerbsunfähigenrenten oder Rehabilitationsmaßnahmen und ähnliches. Und schauen Sie sich einmal die Pensionsfonds in Amerika oder England an, wie es um deren Sicherheit bestellt ist. Unsere gesetzliche Rente ist immer noch sicherer als jede Privatversicherung, das zeigen auch die Kapitalbewegungen auf dem deutschen Kapitalmarkt: In 18 Monaten sind da 600 Milliarden Euro durch den Kamin gerauscht, das ist die dreifache Jahresausgabe der Rentenversicherung. Der Vorteil der privaten Versicherungen ist, dass sie global operieren, doch viele Länder haben die gleichen demografischen Probleme wie wir. Und zu glauben, dass die Dritte Welt mit den Zinsen unseres Kapitals auf Dauer unsere Alten finanzieren wird, halte ich für einen gefährlichen Trugschluss.
Sie sagen, die Sozialkassen sollen am Leistungsprinzip orientiert bleiben. Aber was passiert, wenn die jungen Menschen gar keine Chance zur Leistungserbringung haben, sprich arbeitslos sind? Die sogenannte demografische Falle scheint doch eher von der Arbeitsmarktfalle abzulenken?
Das ist richtig! Also, angenommen, wir hätten über Nacht die doppelte Anzahl von Kindern und die hätten übermorgen nur halb so viel Arbeit, dann wäre für die Finanzierung der sozialen Sicherung nichts gewonnen. Ich wundere mich aber auch über die jungen Leute, die sich mit 20 Jahren bereits Gedanken darüber machen, wie hoch ihre Rente in 50 Jahren sein wird, auf die Idee wäre ich nicht gekommen - und ich habe nicht so viel von Risiko und Selbstständigkeit geschwärmt wie die jungen, flotten Betreiber einer virtuellen Wirtschaft. So zukunftsängstlich war ich nie. Dabei ist der Lebensstandard dieser jungen Generation höher als aller vorhergehenden. Meine Eltern haben zwölf Prozent Rentenversicherungsbeitrag bezahlt, aber trotzdem weniger Geld zur Verfügung gehabt.
Die Hauptfrage ist Arbeit für alle, und Arbeit gibt es genug, sie muss nur vernünftig organisiert werden. Was mich an der deutschen Diskussion stört, ist, dass beim Thema Arbeitsmarkt nur die Kosten des Sozialstaats Thema sind, als ginge es nicht auch um Innovation, Investition, Entbürokratisierung und ähnliches. Und so viel kann in der Sozialpolitik gar nicht gespart werden, wie die Arbeitslosigkeit kostet.
Das heißt, Sie wären sehr für Arbeitszeitverkürzungen?
Nein, es geht nicht darum, einen vorhandenen Kuchen zu verteilen, sondern ihn größer zu machen. Und der Kuchen muss essbar sein, dafür müssen die Kunden Geld locker machen können. Wir haben Riesenbeschäftigungspotentiale im Dienstleistungsbereich. Nur, für einen Hungerlohn will verständlicherweise keiner arbeiten. Mit einem Vergelt´s-Gott-Tarif oder staatlichen Subventionen entsteht keine Beschäftigung, sonst sind das zweitrangige Arbeitsplätze. Und wenn man das im Maßstab der Welt betrachtet, die im Elend versinkt, und dennoch sagt, die Arbeit geht aus, also das sind doch nur verwöhnte Wohlstandskinder, die sich selbst für den Nabel der Welt halten. Die Reform beginnt im Kopf, nicht mit Paragraphen. Und warum soll ein Mensch eine Maschine bedienen können, aber keinen Menschen?
Sie sagen das mit Blick auf Herrn Missfelder und seine Forderung, künstliche Hüftgelenke für alte Menschen zu rationieren?
Also, zu Herrn Missfelder fällt mir nur ein: Zurück auf die Bäume. Früher haben die Eskimos ihre Eltern noch aufs Eis geschoben. Es ist der Ruin jeder Kultur, wenn eine Generation glaubt, dass sie für sich selber sorgen kann. Natürlich muss man die Leistungen und Belastungen zwischen Jung und Alt gerecht verteilen. Eigentlich ist der Generationenvertrag ein Drei-Generationen-Vertrag, weil von den Erwerbsfähigen für die Kinder und die Alten zu sorgen ist. Zur Zeit hat die Waage der Gerechtigkeit Schlagseite, weshalb eine Familienkasse sinnvoll wäre, um alle familienpolitische Leistungen zu bündeln.
Und wer soll zahlen?
Es müssten jedenfalls diejenigen mehr bezahlen, die keine Kinder haben. Entscheidend für die Familienkasse wäre also nicht, was einer verdient, sondern wer Kinder hat, die morgen die Steuern und Beiträge bezahlen. Es geht um einen Ausgleich zwischen Kinderlosen und Familien mit Kindern.
Ihre Parteifreund Heiner Geißler hat kürzlich vorgeschlagen, der absehbaren Bevölkerungsentwicklung sei nur durch gezielte Zuwanderung zu begegnen. Das wird in Ihrer Partei nicht so gerne gehört. Was halten Sie davon?
Ich bin nicht für die Zuwanderung nach dem Green-Card-System, denn da werden nur die gut ausgebildeten Kräfte abgeschöpft, das ist auch eine Form von Kolonialismus: Früher haben wir die Bodenschätze abgeholt, jetzt die Fachkräfte. Die Alten und Kranken dürfen in Indien bleiben, die Informatiker holen wir aus Bangalore, aus Polen kommen die Spargelstecher, die Polen holen sie dann aus Weißrussland. So kann man eine Stafette rund um die Welt organisieren. Dennoch wird die Europäische Union eine Form der Migration haben, deshalb sind Prognosen sehr schwierig und unzuverlässig. 1990 hat Meinhard Miegel vorausgesagt, Ende des Jahrhunderts wird die Bevölkerung um eine Million abgenommen haben. Nachweislich hatten wir in diesem Jahr drei Millionen mehr. In zehn Jahren um vier Millionen daneben gegriffen. Eine alte Schrotflinte ist treffsicherer als die Prognostiker.
Herr Blüm, als Minister für Arbeit und Sozialordnung blicken Sie mit 16 Dienstjahren auf eine lange Geschichte der Reform der Sozialversicherungen zurück. Sie zeichnen verantwortlich für eine Rentenreform und für die Einbeziehung der ostdeutschen Bürger in das System der Gesetzlichen Pflichtversicherung. Sehen Sie heute, aus der Distanz, auch Defizite Ihrer Politik? War es beispielsweise richtig, die soziale Deutsche Einheit aus der Kasse der (West-)Versicherten statt aus Steuermitteln zu bezahlen?
Falsch ist zunächst, dass die soziale Einheit nur aus der Versicherungskasse bezahlt wurde. Wir hatten fünf Milliarden Anschubfinanzierung ...
... das ändert nichts an der Tatsache als solcher...
Der Vorwurf basiert auf der Annahme, das Problem wäre nicht entstanden, wenn die Ostdeutschen Beiträge in die westdeutsche Versicherungskasse bezahlt hätten. Das ist ein Irrtum, denn bezahlt wird die Rente immer nur aus den aktuell erhobenen Beiträgen, das ist eben das Umlagesystem. Der Bundeszuschuss hat zugegebenermaßen nicht alles abgedeckt, aber wir hatten ja nicht unendlich viel Zeit für Kommissionen, wir mussten über Nacht handeln. Und ich finde es eine große Leistung des Sozialstaats, vier Millionen Rentner aus den neuen Ländern in unser Rentenversicherungssystem einzubeziehen. Dieses Wunder hat nur die so viel gescholtene, wie ein Putzlappen behandelte Rentenversicherung zustande gebracht, keine Privatversicherung der Welt hätte das leisten können.
Sie intervenieren mit Nachdruck für den Sozialstaat - aber gegen alle Grundsicherungsmodelle. Warum?
Soll der Sozialstaat nur für die Bedürftigen da sein? Eine Grundrente für die Bedürftigen - und nur um die geht es, denn eine Grundrente für alle wäre das Geld zum Fenster hinausgeworfen - hieße, dass der Staat ständig prüft, ob jemand arm oder reich ist, jemand ein Auto hat oder ein Haus ... das ist nicht meine Vorstellung von Sozialstaat. In der Logik dieses Bedürftigkeitsstaates liegt die Aufforderung, verjuble, versaufe dein Häuschen oder spar dir gar keines an, denn wenn du eines hast, kriegst du keine solidarische Unterstützung. Das ist eine Bestrafung der Fleißigen und Sparsamen. Mein Sozialstaat ist auch für die da, die ein Leben lang malochen und Beiträge zahlen - und die müssen sich besser stellen, als die, die Sozialhilfe bekommen. Sozialhilfe ist nichts Unanständiges, aber wer arbeitet, dem muss es besser gehen.
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
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