Vom Schulhof kennt man die Ausrede. „He, warum ich? Ich hab’ nicht angefangen! Die anderen tun’s ja auch!“ Auch auf dem Schulhof der Politik werden solche Ablenkungsmanöver praktiziert, sie heißen dann unschön „Whataboutismus“. Ist von der Ukraine-Invasion die Rede, dem Verbot unabhängiger Medien in Russland oder den „Umerziehungslagern“ in Xinjiang, kontert der Whataboutist reflexartig: Und was ist mit dem Kosovo, Assange, Guantánamo? Ein schwacher rhetorischer Trick, meinte dazu Arthur Schopenhauer in seinem heute noch aktuellen Büchlein über Die Kunst, Recht zu behalten. Darum wird Diversion am liebsten im Doppelpack mit einem weiteren Kunstgriff verwendet: der Ad-hominem-Unterstellung, also dem Vorwurf a
em Vorwurf an eine Person oder eine Personengruppe.Das demonstrierte Felix Bartels neulich im Freitag (Ausgabe 23 vom 9. Juni 2022). Selbst wenn es stimmen würde, meint er, dass der Kontrahent mit einem Vergleich nur ablenken wolle: dies werde ihm „ausschließlich“ von Leuten vorgeworfen, die aus politischen Gründen von Gegenbeispielen nichts hören wollen. Sein Fazit: „Der Vorwurf des Whataboutismus ist selbst ein Whataboutismus.“ Ätsch! Aber wenn Menschen systematisch Unterstellungen unterstellt werden, dann sieht es mit dem „Denken in Zusammenhängen“, das Bartels zu verteidigen behauptet, schlecht aus.Da tauchen Erinnerungen aus dem Kalten Krieg wieder auf, als wir, die sowohl gegen Augusto Pinochet als auch gegen Wojciech Jaruzelski demonstrierten, abwechselnd als Kommunistenschweine und Handlanger der Bourgeoisie beschimpft wurden. Besonders Anhänger des Ostblocks griffen defensiv zu Whataboutismus, je weniger sie mit positiven Errungenschaften überzeugen konnten.Doch was damals noch einen letzten Hauch ideologischer Konfrontation besaß, ist heute recht anachronistisch. Gegen den Irak-Krieg demonstrierten ebensolche Massen wie heute gegen den Ukraine-Krieg. Wer die Auslieferung Assanges kritisiert, wird in der Regel die Repression gegen kritische Russen nicht gutheißen. Die Sorge um inhaftierte Uiguren heißt nicht, dass man bei Guantánamo wegschaut. Sicherlich fehlt es in Medien und Politik nicht an politisch Einäugigen und blindwütigen Kalterkriegsliberalen. Doch ihretwegen jegliche Whataboutismus-Kritik zu disqualifizieren, ist unredlich.Ist immer der Ami schuld?Die Frage ist nicht einmal, ob ein Vergleich zulässig ist oder nicht. Man darf sehr wohl Äpfel mit Birnen vergleichen (etwa um zu entscheiden, welche Torte gebacken wird). Oder eine Gefängniszelle in New York mit einer in Pjöngjang. Vermutlich sind da die Ähnlichkeiten gar größer als die Unterschiede. Nicht deswegen ließen sich daraus allgemeine Schlüsse über die Zustände beider Länder ziehen. Hier liegt der fundamentale Punkt: Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen. Im Gegenteil, durch den Vergleich werden die Differenzen sichtbar. Zum Beispiel hat wie die russische auch die US-Armee Missetaten begangen, doch über Abu Ghraib berichteten alle US-Medien, über Butscha keine russischen.Es ist doch eine seltsame Art, die Perspektive zu erweitern, wenn, wie es Noam Chomsky seit 50 Jahren vormacht, der Fokus so gerichtet wird, dass in letzter Instanz immer und einzig der Ami schuld ist. Sicherlich ist Guantánamo ein Schandfleck, doch zumindest erzählt die Regierung nicht, dort machten die Orangenmenschen ein freiwilliges soziales Jahr. Das sind halt die feinen Unterschiede, wodurch sich erkennen lässt, ob man es mit einer Diktatur zu tun hat oder nicht. Und wer vergleicht, ohne auf solche Unterschiede hinzuweisen, setzt Diktaturen mit Nichtdiktaturen gleich.Putins Parodie des WestensNicht zufällig ist das Thema aktuell. Wladimir Putin ist ja der Oberwhataboutist. Seit Jahren besteht seine Außenpolitik darin, dem Westen einen Spiegel vorzuhalten. Einen Zerrspiegel allerdings, der selektive Züge vergrößert und andere frei erfindet. Leider sind seine Bots und Bloggers nicht einmal in der Lage, zuverlässige Gegeninfos zu liefern. Doch wenn er auf die tatsächliche Scheinheiligkeit des Westens verweist, tut es Putin nicht, um sich als wahrer Hüter der Menschenrechte, der Redefreiheit und der Demokratie zu profilieren.Ganz im Gegenteil wird damit zynisch und nihilistisch behauptet, solche Werte könnten nichts anderes als eine inkonsistente Fata Morgana sein. Seine brutale Parodie des Westens zeigt durchaus, dass es im Westen etwas zu parodieren gibt, sie sollte aber mit dem Original nicht gleichgesetzt werden.Und what about Assange? Gerade weil seine Auslieferung das Prinzip der Redefreiheit verletzt, ist sie ein Skandal. Wer Menschenrechthaberei verspottet, hat eigentlich keinen Grund, sich dagegen zu empören.Placeholder authorbio-1