Warum wird über Nazis immer nur geredet, wenn wieder jemand im Krankenhaus liegt?

Im Gespräch Der Rechtsextremismusforscher Dierk Borstel über Konjunkturen der Berichterstattung, NPD-Verbot und was sonst noch alles nicht geht

FREITAG: Wurden Sie schon wegen Mittweida angerufen, wo einer 17-Jährigen, die einem bedrängten Kind helfen wollte, ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt wurde?
DIERK BORSTEL: Nein. In Mittweida gibt es aber auch viele Kollegen vor Ort.

Wann wurden Sie von einer Redaktion zuletzt um Auskunft gebeten?
Erst kürzlich zum NPD-Verbot, weil ich dazu etwas veröffentlicht hatte. Das letzte Ereignis war Mügeln. Aber da war ich nicht so gut greifbar, weil im Urlaub.

Wie läuft ein Ereignis wie Mügeln ab, wenn Sie greifbar sind?
Man hört morgens im Radio, dass irgendwo etwas passiert ist. Dann kann man eigentlich alle Termine absagen. Die großen Sachen, also etwa: Kameradschaft Süd plant Anschlag in München, dauern fast eine Woche. Da fragen alle Medien, wer ist das, was soll das, was kann man tun? Nach drei, vier Tagen nimmt das ab, und nach einer Woche ist es vergessen. Diese ständige Wellenbewegung erleben wir jetzt seit 15 Jahren.

Keine Änderung in Sicht?
Auffallend ist, dass die Anlässe der Berichterstattung sich steigern müssen. Früher haben relativ kleine Vorfälle gereicht, um ein mediales Echo zu erzeugen. Heute muss es mindestens einen Toten geben, aber eine Debatte löst das auch nicht mehr aus wie damals beim "Aufstand der Anständigen" nach dem Mordanschlag von Düsseldorf. Terrorismus ist mit München nun abgedeckt. Jetzt wird es langsam schwierig mit der Steigerung.

Der letzte große Aufreger war Mügeln. Woran lag das?
An dem Bild, dass eine komplette Stadtgesellschaft angeblich eine rassistische Treibjagd veranstaltet. Allein die Vorstellung der Treibjagd ist für Medien faszinierend. Ich würde Mügeln sehr differenziert betrachten wollen. Eben weil da Bilder verwendet werden, die nicht immer stimmig sind: Es handelte sich nicht um die komplette Stadtgesellschaft, und es ging nicht nur um Rassismus. Man muss vorsichtig sein, weil viele Türen zugeschlagen werden, bei der Frage, was daraus zu lernen ist, wenn man sagt, da ist eine ganze Stadt rassistisch.

Nun hat der Bürgermeister in diesem Fall den Glauben ans Gegenteil nicht unbedingt gefördert.
Den würde ich sofort als Pressesprecher engagieren (lacht). Im Ernst: Der Bürgermeister hat in seiner Außendarstellung alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Jedes Klischee bedient, in jedes Fettnäpfchen getreten, in jedes Mikrofon gesprochen, und natürlich ist es außerordentlich problematisch, was er von sich gegeben hat, auch welche Bilder er benutzt hat. Ich möchte ihn nicht in Schutz nehmen, aber er wirkte auch sehr hilflos.

Welche Bilder sind das?
Zu sagen, dass Rechtsextremismus etwas Außenstehendes sein muss, dass das nicht Mitglieder der Gemeinde sein können oder integrierte Persönlichkeiten. Die klassische Extremismus-Definiton. Rechtsextremismus heißt, jenseits der Gesellschaft zu stehen. Diese Vorstellung wird genährt durch offizielle Interpretationen, von Verfassungsschutzämtern oder Landesregierungen. Das ist aber Unsinn, wenn man in den realen Alltag einsteigt. Da wird man feststellen, dass Komponenten von Rechtsextremismus sehr wohl auch in der Mitte einer Stadtgesellschaft existieren können. Was aber wiederum nicht heißt, dass diese dann per se rechtsextrem oder rassistisch ist. Das trifft häufig nur auf einen Teil zu. Und dann ist es auch eine Frage, welche Wertigkeit rechtsextreme Einstellungen haben: Sind die handlungsrelevant oder werden die nur still für sich zu Hause gepflegt? Ich will das nicht bagatellisieren, aber es macht einen Unterschied.

Woher nehmen Sie die Skepsis, wenn Sie, wie von Mügeln, nur aus dem Radio erfahren wie jeder andere?
Aus zehn Jahren Erfahrung. Wir sind, Ausnahmen bestätigen die Regel, immer dahin gerufen wurden, wo das Kind schon in den Brunnen gefallen war: wo ein Tagebuch der Anne Frank verbrannt, wo jemand totgeschlagen worden ist. Das Bild von außen ist häufig einheitlich: Diese Stadt ist rechtsextrem! Schaut man aber genauer hin, findet man in den kleinsten Dörfern noch demokratische Potenziale vor. Manchmal wird sich´s da ein bisschen zu einfach gemacht.

Inwieweit stören Medien dabei, weil bei denen der Raum für Differenzierung knapp ist?
Problematisch ist für uns, dass es manchmal im kommunalen Bereich eine Art Hofberichterstattung gibt. Da werden Probleme mitunter nicht thematisiert, weil die Sicht von lokalen Verantwortlichen unreflektiert übernommen wird. Gleichzeitig haben diese Medien aber eine gewisse Autorität: Wenn´s in der Zeitung steht, wird´s schon stimmen. Und was nicht drin steht, gibt´s dann eben nicht. Für uns war immer wichtig, Medien zu haben, die nicht nur auf den Skandal gucken, sondern kritisch auf die Umfelder des Skandals. Da helfen Medien, in dem sie Probleme publik machen und Reibung erzeugen. Wir hatten einen prominenten Journalisten, der meinte, wir hätten ein falsches Bild von der Dominanz des Rechtsextremismus, weil wir uns zu lange damit beschäftigt haben. Wir haben ihn eingeladen. Nach einem Tag rief er an: nix zu sehen, Frechheit, er fühlte sich bestätigt. Nach drei Tagen saß er bei uns im Büro und war entsetzt. Weil er mit Leuten gesprochen hatte, und zwar nicht unbedingt mit Bürgermeister und anderen Vertretern der Mehrheitsgesellschaft, sondern mit dem 16-jährigen Punk, dem Flüchtling im Asylheim, der Neuntklässlerin, die sich gegen rechts engagiert. Zu sehen war an der Oberfläche nichts. Erst als er mit den Menschen gesprochen hat, wurde ihm klar, wie so ein kommunaler Prozess läuft.

Diese Zeit nehmen sich die wenigsten.
Ich habe auch Journalisten kennen gelernt, die froh waren, wenn sie einen rassistischen Spruch auf Band hatten. Geschichte gerettet, Bericht wird garantiert gesendet. Das ist dann eine Sache von journalistischer Seriosität, ob man sich dann die zwei Minuten noch nimmt und so etwas hinterfragt. Was ich ablehne, sind Berichterstatter, die schon vorgefertigte Bilder haben. Das sind dann Anrufe wie: Wir brauchen Blut, wir brauchen Skinheads und vielleicht noch eine Nazi-Demo. Am besten alles zusammen und möglichst in einer Stunde. Da wird nur ein vorgefertigtes Bild reproduziert. Das finde ich ausgesprochen problematisch. Das gibt´s auch im Printbereich, aber besonders anfällig dafür ist das Fernsehen.

Ein vorgefertigtest Bild schien auch Johannes B. Kerner zu haben, als er Eva Herman bat, seine Sendung zu verlassen. Da wird nicht diskutiert, warum der Vergleich schief ist, sondern gesagt: "Autobahn geht halt nicht", und die Diskussion ist für ihn zu Ende. Ist das nicht ein Problem, dass so ein Mainstream-Repräsentant da offensichtlich gar nicht mehr drüber sprechen kann?
Ich halte überhaupt nichts von einer Tabuisierung. Autobahn geht nicht, finde ich überdies ein bisschen banal. Ich bin der Meinung, was in den Köpfen drin ist, das muss auch raus. Dann ist es Sache des Gegenübers, das einzuordnen, zu hinterfragen, Brüche in der Ideologie aufzuzeigen. Ansonsten hat es keinen Sinn. Eine Auseinandersetzung, die von vornherein in das Korsett des Tabus gezwängt wird, ist ja keine Auseinandersetzung, das ist dann Kasperletheater.

Aber die Angst vor dem Tabubruch merkt man jeder Wahlsendung an, bei der die Rechten über fünf Prozent kommen: Die Politiker der demokratischen Parteien verlassen das Feld, wenn der Rechte vors Mikro darf, und dem Moderator kann man die Angst davor ansehen, dass der jetzt gleich "Autobahn" sagen könnte.
Man kann sich fragen, was eine Auseinandersetzung mit Vergangenheit sein soll, wenn es von vornherein Sachen gibt, die tabu sind. Das Problem ist, dass es Kräfte gibt, die diese Tabus nicht im demokratischen Sinne diskutieren wollen, sondern wie die Neue Rechte um Vergangenheit wieder zu installieren. Aber da muss die Demokratie doch mal genug Selbstbewusstsein haben. Demokratie heißt streiten, heißt Pluralismus zulassen, heißt Meinungsfreiheit. Das gilt bei uns aber nur für ein ganz enges Feld, und für die Spinner nicht. Amerikanische und britische Vorstellungen halte ich für seriöser: Man kann Meinung eben nicht verbieten, sondern es geht darum, dass man sich mit Meinungen auseinandersetzt. Uns fehlt eine Tradition des Streites. Bei uns wird ein Konflikt nicht als etwas Konstruktives betrachtet. Abweichende Meinungen werden als Infragestellung von Persönlichkeit und nicht als Infragestellung einer Position bewertet. Das empfinde ich als großen Mangel.

Wie könnte der behoben werden?
Man muss vorbereitet sein, etwa das Programm NPD kennen, auch mal drüber nachgedacht haben, was da funktioniert und was nicht. Und dann kann man sich streiten. Die NPD fährt eine Wortergreifungsstrategie. Die gehen zu anderen Veranstaltungen, um ihre Positionen einzubringen. Das hatte ich neulich: kommunale Veranstaltung, Thema Rechtsextremismus, Vortrag gehalten. NPD-Mann meldet sich, sagt, alles schön und gut, Herr Borstel, aber das eigentliche Thema hier vor Ort ist Hartz IV, abhängige Wirtschaftsmacht, wir müssen wieder deutsche Wirtschaft aufbauen, zu eigener Kraft und eigenen Wurzeln zurückfinden, um die Leute wieder in Arbeit bringen. Also habe ich gesagt, reden wir darüber. Wie läuft denn so eine schollenbezogene Wirtschaftskonstruktion? Was bedeutet es, wenn wir aus der EU aussteigen? Wenn wir Kontakte zu Amerika, zum Weltmarkt abbrechen? Wenn wir auf Im- und Export verzichten, sondern nur noch auf die eigenen Rohstoffe setzen? Welche sind denn das? Das deutsche Öl? Man wird schnell feststellen, dass die Antwort der NPD gut klingt, aber dass das überhaupt nicht funktioniert, sondern pure Ideologie ist. Und ich glaube, dass man denen so eher Wind aus den Segeln nimmt, als wenn ich gesagt hätte: raus. Der NPD-Mann sprach den Leuten nach den Mund, nach einer realen Sehnsucht, nach Arbeit, Zukunft, Perspektive - das wäre dann so stehen geblieben. Wenn man den rausschmeißt, steht man als Verlierer da. Oder wenn man sagt, das ist jetzt NPD, und sehen Sie, der ist geschult. Das überzeugt ja keinen, der sagt, ich habe Hartz IV und mir reicht das nicht. Am Ende war der NPD-Mann recht ruhig.

Trotzdem ruft die Politik immer wieder nach einem Verbot.
Dagegen wehre ich mich. Wenn man sich den Hintergrund der neuesten Verbotsdebatte anschaut, dann geht´s da um die Fleischtöpfe. Das Thema kam auf, als in den Umfragen in Mecklenburg-Vorpommern absehbar war, dass die NPD eine reale Chance hat, über fünf Prozent zu kommen. Das betrifft nicht nur Gelder, sondern auch Sitze im Parlament. Es ist natürlich angenehmer, wenn man im Landtag ohne NPD sitzt, das kann ich nachvollziehen. Aber als Motivation für eine Verbotsdebatte, halte ich das für entschieden zu wenig. Es gibt ein Argument dafür, die Frage der Finanzen, das finde ich auch ansprechend, dass man rechte Strukturen nicht mit staatlichen Mitteln fördern will. Aber das Hauptargument gegen ein NPD-Verbot scheint mir stärker: die Formen der Auseinandersetzung - politische Bildung, Stärkung der Zivilgesellschaft, kommunale Strategien - sind überhaupt noch nicht ausgereizt. Man kann nicht die allerletzte Karte des Grundgesetzes ziehen, wenn es noch gilt, das Spiel davor zu beherrschen.

Die Politik geht mit dem Problem Rechtsextremismus ja ähnlich um wie die Medien: Das ist nie chronisch, sondern immer nur akut. Wenn irgendwas passiert, wenn neue Zahlen vorliegen.
Ich bin kein Freund von Zahlen, obwohl die das Hauptinstrument der Beobachtung sind. Zahlen können nie Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität sein. Wenn ein Innenminister die Zahlen fürs Jahr präsentiert, ist das eine Win-Win-Situation, der muss aufpassen, dass er nicht grinst. Wenn sie steigen, bedeutet das erhöhte Sensibilität, funktionierende Polizei. Wenn sie sinken, ist das Problem im Bereich der Lösung. Was wir bräuchten, wäre eine unabhängige Stelle, die über konkrete Wahrnehmung vor Ort Klimabilder entwirft. In Ostvorpommern, wo ich arbeite, gibt es fast keine Gewalttaten mehr. Ich wüsste auch gar nicht, wen man als Rechtsextremist da noch angreifen sollte. Der Rechtsextremismus ist in starkem Maße präsent, aber die Zahlen sagen, das Gebiet ist befriedet. Aber nicht durch eine gewachsene demokratische Kultur, sondern aus Mangel an Opfern.

Das Gespräch führte Matthias Dell

Dierk Borstel ist beim 1997 gegründeten Zentrum für demokratische Kultur (ZDK) mit Sitz in Berlin tätig. Die staatlich unabhängige gemeinnützige Gesellschaft arbeitet wissenschaftlich, Politik beratend und Projekt bezogen, wie bei "Exit", wo Aussteiger aus der rechtsextremen Szene unterstützt werden. In seiner Dissertation an der Universität Greifswald, die im nächsten Jahr vorliegen soll, widmet sich Borstel in vergleichenden Regionalanalysen dem Verhältnis von Rechtsextremismus und Demokratie.

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