Der banale Kram des wirklichen Lebens Neun Jahre nach "Before Sunrise" treffen sich Julie Delpy und Ethan Hawke wieder und fragen sich gegenseitig Löcher in den Bauch
Im Jahr 1995 hatten die Eisenbahnen noch komfortable Speisewagen. Dorthin konnte gehen, wer etwas essen oder trinken oder auch nur für einen Moment dem engen und lauten Abteil entfliehen wollte. Vielleicht sogar in Begleitung einer reizenden Reisebekanntschaft - wie sie der Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) in der Französin Céline (Julie Delpy) gefunden hatte. Dass die beiden jungen Leute Anfang Zwanzig im Zug zwischen Budapest und Wien Zeugen eines handfesten Ehekrachs wurden, brachte sie ins Gespräch. Wenig später saßen sie schon beim Kaffee und Jesse erzählte von einer Idee, die er später einmal gerne verwirklichen würde: Eine Fernsehserie über den Alltag seiner Freunde, die 24 Stunden am Stück ununterbrochen läuft! "Du meinst die
diesen banalen Kram des wirklichen Lebens?", frozzelte Céline. "Also ich würde das eher Poesie nennen", protestierte der junge Mann; nur zum Schein über ihre Antwort entrüstet.Der Regisseur Richard Linklater war natürlich derselben Meinung wie Jesse. Sonst hätte er Before Sunrise kaum gedreht: Ein Film über den Zauber des Alltags; ein Film; in dem nichts anderes geschieht als dass sich zwei Menschen zufällig begegnen und dann einige Zeit miteinander verbringen. Jesse fragt Céline, ob sie mit ihm in Wien aussteigt. Bis zum nächsten Morgen, dann geht sein Flug zurück in die USA, streifen sie nun durch die Stadt. Sie besuchen Cafés, Kneipen und Kirchen. Sie mustern sich heimlich, um sofort wieder wegzugucken, wenn der andere den Blick erwidert. Es knistert schon ziemlich heftig! Das erotische Spielen mit Annäherung und Distanz geschieht aber vor allen Dingen mit Worten: Before Sunrise ist ein Film, in dem beinahe ununterbrochen geredet wird; dem Vorurteil nach also eine furchtbar öde Angelegenheit. Doch was sind das für tolle Dialoge! Voller Tempowechsel und überraschender Wendungen. Voller Melancholie, Leichtigkeit und Witz. Dabei ganz und gar unprätentiös: Man hat tatsächlich den Eindruck, als gäbe es diese Menschen wirklich. Mit jedem ihrer Sätze hinterlassen sie den Eindruck, als seien sie keine Filmfiguren, sondern gute Freunde, was natürlich eine hart erarbeitete Illusion ist.Seitdem sind neun Jahre Zeit vergangen. Die Speisewagen sind Bistroabteilen gewichen, die so eng sind, das man besser gleich am Platz sitzen bleibt. Dafür hat das Fernsehen längst Jesses Traum von einer Dauersendung über den Alltag ganz normaler Menschen aufgegriffen. Als "Reality-TV" ist diese Idee inzwischen freilich so ausgewalzt, dass sie ihren ursprünglichen Reiz ziemlich verloren hat. Auch Richard Linklater, dessen dokumentarischer Zugriff auf die Wirklichkeit sich vor Before Sunrise schon in Filmen wie Slacker und Dazed and Confused zeigte, gehört nicht mehr zu ihren schärfsten Verfechtern. Sein letzter Film war School of Rock; eine sympathische, aber konventionelle Hollywoodkomödie - gleichzeitig sein größter kommerzieller Erfolg.Aber wie das bei guten Freunden so ist: Selbst wenn man sie ein wenig aus den Augen verloren hat, möchte man doch wissen, was aus ihnen geworden ist. Deswegen erzählt Linklater uns in Before Sunset nun, wie es Céline und Jesse erging. Letzter etwa wurde, das hat er mit seinem Darsteller Ethan Hawke gemein, Schriftsteller. Jesse hat ein Buch über die wundersamen Stunden in Wien geschrieben, das ihn auf eine Lesereise nach Europa führt. Bei einer Signierstunde in einer kleinen Pariser Buchhandlung bleibt ihm fast das Herz stehen: Im Publikum entdeckt er Céline. Wenige Sekunden später schlendern die beiden schon durch die Straßen von Paris und fragen sich gegenseitig Löcher in den Bauch: Was machst du beruflich? Interessierst du dich für Politik? Haben sich deine Träume erfüllt? Gibt es jemanden in deinem Leben?Natürlich kann diesen Film auch genießen, wer Before Sunrise nicht kennt: Einmal mehr sind die Dialoge klasse, weil sie vor Witz und Einfallsreichtum sprühen; einmal mehr lässt die Inszenierung Platz für vor Aufregung gestotterte Fragen und zögerliche Antworten, die die Wirklichkeitsnähe des Treffens betonen. Aber Vergnügen (und die Rührung) ist größer, wenn man Céline und Jesse mit dem Wissen um ihre erste Begegnung zusieht und zuhört. Weil man dann den Prozess zur Kenntnis nehmen kann, den sie durchgemacht haben. Die etwas philosophische Abstraktion etwa, mit der sie damals über Unglück und Tod sprachen, ist verschwunden. Sie haben längst am eigenen Leib Wunden und Verletzungen davongetragen; sie wissen genauer, wie das Leben geht. Die unbeschwerte Leichtigkeit von einst ist einer, nun ja, Reife gewichen. Ein Realitätssinn, der sich auch in ihren politischen Diskussionen zeigt. Noch in den großspurigsten Analysen der Weltverhältnisse bleibt beiden klar, dass der eigene Handlungsspielraum begrenzt ist.Geblieben ist freilich die Fähigkeit, alles nicht so ernst zu nehmen, auch das eigene Unglück. Auf eine höchst intime Bemerkung, die man nur Leuten gegenüber macht, denen man wirklich vertraut, kann deshalb eine Zehntelsekunde später ein alberner Scherz folgen. Geblieben ist schließlich auch die gegenseitige Attraktion. Je länger das Gespräch zwischen Céline und Jesse dauert, desto deutlicher wird, was beide zunächst voreinander verbergen wollten: Sie haben die ganzen neun Jahre aneinander gedacht; sie haben eigentlich nie wieder jemanden gefunden, bei dem es so heftig gefunkt hat. Könnte gut sein, dass es diesmal nicht damit getan ist, sich nach einigen intensiven Stunden wieder zu trennen.Mit Before Sunset zeigt Richard Linklater freilich auch noch einmal, dass sich sein Wirklichkeitszugriff von demjenigen des "Reality-TV" ein klein wenig unterscheidet. Wer Menschen ein Jahr lang in einen Container steckt, bekommt sicherlich soziologisches Anschauungsmaterial en Masse. Aber eher keine Poesie. Die entsteht, wenn menschliche Erlebnisse und Erfahrungen nicht einfach nur montiert und abgebildet, sondern in einer Inszenierung geformt werden. Im Fall von Before Sunset ähnelt das Ergebnis manchmal beinahe einem Märchen. Aber durchaus einem, von dem man glaubt, es könne so oder ähnlich jeden Tag wahr werden.
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