Nennen wir ihn Kevin. Er ist ein Dieb, ein Schläger und Brandstifter. Das ist sicher. Und er ist schwer krank. Das sagt Kevin selbst. Wer verstehen will, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, beginnt mit Kevins Geschichte am besten ganz am Anfang.
Kevins Vater arbeitet nach seinem Abschied von der US-Army in einem chemischen Betrieb. Die Mutter trinkt und hat Mühe, den Haushalt aufrechtzuerhalten. Der Arzt hat ihr nach der schwierigen Geburt des ersten Kindes zu einer längeren Kinderpause geraten. Doch bald ist sie wieder schwanger. Sie trägt sich mit dem Gedanken, das Kind abtreiben zu lassen, versäumt aber die Frist und trägt das Kind aus. So kommt Kevin 1984 als zweiter Sohn des deutsch-amerikanischen Ehepaars in einem hessischen Dorf zur Welt. Seine Geburt fällt beinahe mit einer verspäteten Abtreibung zusammen: Er kommt mit einer mehrfachen Nabelschnurumschlingung zur Welt und erstickt um ein Haar. Heute lässt sich wohl sagen: Die Schlinge, die sich bei seinem Eintritt in die Welt um seinen Hals legte, hat sich auch später nie ganz gelöst.
Die Mutter hat Kevin nicht gewollt, ein Präservativ hätte ausgereicht, und es gäbe dieses Kind nicht. Wie soll sie ihn nun, da er sich eingestellt hat, bemuttern oder gar lieben? Sie empfindet das Kind als Last und begegnet ihm mit einer tiefen Ambivalenz. Einer späteren Gutachterin schildert die Mutter Kevin als „liebes Baby“, das wenig weinte und viel schlief. Beide Eltern berichten aber auch vom „leeren Blick“ des Kindes und seiner emotionalen Unerreichbarkeit. Kevin tut sich schwer, sprechen zu lernen. Zu Hause nennen sie ihn deswegen „unseren Blödmann“.
Als Kind kann er noch stundenlang an einem nahe gelegenen Bach sitzen und ins Wasser stieren. In der Schule aber beginnt er plötzlich zu zappeln und um sich zu schlagen. Es ist, als müsse der Junge der Gefahr eines Rückzugs aus der Welt mit einer übertriebenen Lebhaftigkeit begegnen. Man nimmt ihn wegen „Hyperaktivität“ aus der Schule und schickt ihn in eine Vorklasse. Ein Jahr später – also 1991 – wird Kevin erneut eingeschult, doch bald häufen sich die Klagen. Er werde zunehmend aggressiv, sagen die Lehrer, und auch ansonsten sei sein Verhalten auffällig. Zum ersten Mal werden professionelle Helfer zu Rate gezogen. Mitarbeiter einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz stellen fest, dass sich aus einer einfachen „Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ eine „Störung des Sozialverhaltens mit emotionaler Symptomatik“ entwickelt hat. Man verordnet Kevin Ritalin.
Die Mutter sagt: Bring dich doch endlich wirklich um
Die Familie bekommt vom Jugendamt Beistand bei der Erziehung. Dennoch ist die gesamte Grundschulzeit durchzogen von Klagen über Schulschwänzen, Diebstählen, Spielen mit Feuer, mangelnde Mitarbeit und Aggressionen gegenüber Sachen, Tieren und Menschen. Vielleicht rettet er sich vor dem Gewahrwerden seines eigenen Elends, indem er über hilflosere Kreaturen triumphiert, die in Wahrheit ihn selbst verkörpern. Eines Tages jedenfalls zerquetscht er auf dem Schulhof ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen.
Nach einem Schulwechsel nehmen die Probleme noch zu. Kevin beginnt zu rauchen und Alkohol zu trinken, stiehlt vermehrt und bricht in eine Gaststätte ein. Der Vater reagiert auf das Verhalten seines Sohnes mal mit ohnmächtiger Wut und Gewalt, dann wieder bietet er ihm Zigaretten an und lässt ihn an seinem Joint ziehen. Mit 13 Jahren wird Kevin zum ersten Mal in einem Heim untergebracht. Aber auch dort ist er nicht zu halten. Er schließt sich einem erwachsenen Obdachlosen an und begeht mit ihm Einbrüche. Kevin versucht, sich umzubringen. Daraufhin landet er für drei Monate in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Man verabreicht ihm Medikamente, die seine Gefühle dämpfen, und empfiehlt, ihn für eine Weile aus seinem Umfeld herauszunehmen. 1998 und 1999 lebt Kevin für eineinhalb Jahre mit einer kleinen Gruppe von Jugendlichen und Betreuern in Nordschweden. Dieser Aufenthalt ist wie eine Auszeit: Er lernt zu angeln und kommt in der reizarmen Umgebung und bei intensiver Betreuung etwas zur Ruhe.
Nach der Rückkehr nach Deutschland wird er erneut in einem Heim untergebracht. Prompt brechen die alten Probleme wieder auf: Er reißt aus, stiehlt, beschädigt Autos, bricht in eine Grillhütte ein und verhält sich den anderen im Heim gegenüber aggressiv. Erneut landet er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo er mit Neuroleptika behandelt – das heißt ruhig gestellt – wird. Anschließend schickt man ihn in eine Jugendhilfeeinrichtung nach Thüringen. Kevin reißt immer wieder aus und schlägt sich schließlich zu seinen Eltern durch. Dort kommt es nach wenigen Tagen zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Die Mutter wirft ihn aus dem Haus.
Auf dem Bahnhof der nächsten Kleinstadt erleidet Kevin einen ersten Krampfanfall, der ihn für acht Tage ins Krankenhaus bringt. Die Mutter – nach wie vor ambivalent und auch voller Schuldgefühle – holt ihn dort ab und nimmt ihn wieder zu Hause auf. Doch innerhalb von drei Tagen eskaliert die Lage erneut in Gewalt. Die Mutter setzt ihren Sohn vor die Tür und wirft ihm seine Jacke und die krampflösenden Medikamente hinterher. Dann sagt sie noch, dass er sich mit Hilfe der Arznei „doch endlich wirklich umbringen“ solle. Tatsächlich schluckt Kevin den Inhalt der ganzen Packung, geht dann allerdings zu seiner Großmutter, die den Notarzt ruft. Er wird erneut in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeliefert, wo den Ärzten erneut nichts anderes einfällt, als den Problemen mit Neuroleptika zu Leibe zu rücken. Schließlich schicken sie ihn nach Thüringen zurück.
Die Gutachterin sagt: Er ist dissozial, aber schuldfähig
Nun häufen sich die Krampfanfälle auch dort und führen ein weiteres Mal zur Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Anfälle werden als „psychogen“ oder – weniger vornehm ausgedrückt – als „gespielt“ erkannt. Medizinhistoriker haben gezeigt, dass im 19. Jahrhundert Patientinnen des französischen Neurologen Jean-Martin Charcot lernten, ihre hysterischen Anfälle nach dem Vorbild von Epileptikerinnen zu gestalten, die auf der Nachbarstation untergebracht waren. Ganz ähnlich greift Kevin bei der Gestaltung seiner Krampfanfälle auf Erfahrungen aus der Jugendpsychiatrie zurück, wo er verschiedentlich Zeuge echter epileptischer Anfälle geworden war.
Die Anfälle sind sein Modus, allzu komplexe Situationen magisch zu vereinfachen und sich vorübergehend aus einem Spiel zu nehmen, dessen Regeln er nicht beherrscht und bei dem er ständig verliert. Kevin ist der Ungeliebte, der Ungelegene und Überflüssige, der sich auf diese Weise außerdem ein wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Ärzte und Pflegepersonal verschafft. Die Klinikaufenthalte bieten zudem den handfesten Vorteil, die Geldbörsen und Spinde der Mitpatienten plündern zu können.
Im Thüringer Heim greift er schließlich eine Mitarbeiterin an. Er wird aus der Einrichtung entlassen und erneut von den Eltern aufgenommen. Kevin schlägt seine Mutter, diese würgt ihn im Gegenzug. Nur das Auftauchen des Vaters verhindert Schlimmeres. Im nächsten Heim zündet Kevin eine Scheune an und verschwindet. Er lebt auf der Straße und kommt in einer nahe gelegenen Großstadt mit harten Drogen in Berührung. Von Ärzten frühzeitig daran gewöhnt, dass sich Gefühle und Verhalten mit Arzneien steuern lassen, nimmt er seine Medikamentierung nun selbst in die Hand. Er schluckt alles, was er kriegen kann.
Wenig später stellt er im Bahnhof seines Heimatortes einen Schuhkarton ab, auf den er eine Milzbrand-Warnung geschrieben hat. Als niemand von der Schachtel Notiz nimmt, informiert er selbst die Polizei, die ihn noch in der Nähe der Telefonzelle festnimmt. „Ich wollte ein bisschen Aufsehen erregen mit der ganzen Sache“, sagt er bei der Vernehmung. Unter anderem wegen Vortäuschung einer Straftat wird Kevin 2001 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, die er bis zum letzten Tag verbüßt. Seine Eltern holen ihn an der Gefängnispforte ab und nehmen ihn mit nach Hause. Dort gerät er mit seinem älteren Bruder aneinander und landet nach einer Woche wieder auf die Straße.
Er weiß nicht wohin, irrt umher. Der Angst- und Panikpegel steigt, irgendetwas muss passieren. Schließlich springt das in seinem Innern lodernde Feuer nach außen über und er legt in einer nahe gelegenen Kleinstadt in einer Nacht drei Brände. Nach dem Motto „Wenn doch jemand käme und mich mitnähme“, ruft er schließlich bei der Polizei an und behauptet, Opfer eines Raubüberfalls geworden zu sein. Man überstellt ihn in eine psychiatrische Anstalt und bestellt eine Gutachterin, die ihn für den bevorstehende Prozess auf seine Schuldfähigkeit untersuchen soll. Die Gutachterin erklärt ihn für „dissozial“ und „schuldfähig“ und stellt ihm eine düstere Prognose aus. Das Gericht folgt ihrem Votum und verurteilt ihn zu einer Jugendstrafe von drei Jahren.
Im Jugendgefängnis erleidet er in immer kürzeren Abständen „epileptische“ Anfälle, welche die Mitarbeiter auf Trab halten. Nachdem Kevin einen Zellengenossen fälschlich beschuldigt, ihn gewürgt, gefesselt und vergewaltigt zu haben, bekommt er auch noch Stress mit den Mitgefangenen und ist für den Jugendvollzug nicht länger tragbar.
Er selbst sagt: Ich lag im Koma, war Söldner und Messerwerfer
Er wird in ein Gefängnis für Erwachsene verlegt. Dort teilt er eines Tages dem Stationsbeamten mit, dass er Stimmen höre und Tiere über den Boden seiner Zelle krabbeln sehe. In seinen Erzählungen sind Fantasie und Realität wie zu einem Zopf verflochten. Er behauptet inzwischen, Söldner in Afghanistan gewesen zu sein – genau in der Zeit, in der er sich in Wirklichkeit in Schweden aufgehalten hat. Außerdem habe er nach einem schweren Autounfall sieben Monate im Koma gelegen, in einem Zirkus als Assistent eines Messerwerfers gearbeitet und in Tschechien auf „Zigeunerart“ eine wesentlich ältere Frau geheiratet und mit ihr zwei Kinder bekommen. Er prahlt mit schwerwiegenden, nicht aktenkundigen Taten und Abenteuern, besten Kontakten zur Unterwelt und dem Besitz eines riesigen Waffenarsenals. Er übertreibt seinen Drogenkonsum und seine Neigung zur Selbstverletzung. Auch die Schilderungen der Stimmen und Krabbeltiere in seiner Zelle wirken wie ein Fake.
Inzwischen hat Kevin seine Strafe verbüßt und das Gefängnis so verlassen, wie er hineingekommen ist: ohne Schulabschluss, Berufsausbildung und Perspektive und mit einem Bündel ungelöster Probleme und Konflikte. Vorübergehend hat ihn eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Danach wartet niemand und nichts auf ihn.
Die Serie Berichte aus dem Dunklen versammelt in loser Folge Porträts von Menschen, die ein Verbrechen begangen haben. Die Geschichten versuchen zeitgenössische Antworten auf die alte Büchnersche Frage zu geben: Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?
Der Autor Götz Eisenberg arbeitet beim psychologischen Dienst einer Haftanstalt in Butzbach. Namen, Orte und Jahreszahlen wurden verändert. Der Erlös der Artikel wird zur Finanzierung von Kulturprojekten im Butzbacher Gefängnis verwendet.
Kommentare 6
Ich habe mich über diesen Artikel wirklich geärgert.
Toller Artikel. Vielen Dank dafür.
warum?ich wüßte zu gern, was genau sie geärgert hat.
Der Teil 9 der "Berichte aus dem Dunklen" von Götz Eisenberg zeigt schonungslos und offen, was unserer Gesellschaft Kinder wie Kevin wert sind.
Von Anfang an abgelehnt
Kevin ist kein Wunschkind gewesen, es passierte einfach. Dieses Schicksal teilt er mit vielen anderen Altersgenossen. Kevin aber bekam von seiner Geburt an keine menschliche Wärme, seine Mutter lehnte ihn emotional ab, er sollte spüren, dass er ungewollt war. Damit, von Begin seines Lebens an, begannen seine Probleme. Nicht Kevin war es, der diesen "leeren Blick" und eine emotionale Unerreichbarkeit wollte, nein, es waren seine Eltern, denen er dies zu "verdanken" hat. Wer sein Kind " unseren Blödmann" nennt, demonstriert eigene emotionale Unerreichbarkeit, die er auf das wehrlose Kind überträgt. Wie aber soll sich ein Kind, das sich nie als Persönlichkeit angenommen fühlt, gegen übermächtige Erwachsene, von denen es abhängig ist, wehren? Kevin tat das, was er konnte, er reagiert mit übertriebener Lebhaftigkeit.
Gesellschaftliches Versagen
Hier setzt nun ein Kreislauf ein, aus dem es für Kevin kein Entkommen mehr gab. Die Diagnose "Hyperaktivität" stigmatisiert ihn, drängt ihn weiter in ein Abseits. Aus einer zu diesem Zeitpunkt noch relativ leicht behandelbaren "Aktivitäts - und Aufmerksamkeitsstörung " entwickelt sich, durch das Nichteingreifen jetzt geforderter Erwachsener, eine " Störung des Sozialverhaltens mit emotionaler Symptomatik". Die Reaktion darauf ist so stereotyp wie falsch, es wird Ritalin verordnet. Dieses Medikament ist ein Standardmedikament bei fachärztlich diagnostiziertem Aufmerksamkeits Defizit Syndrom (ADS) oder Aufmerksamkeit Defizit Syndrom mit Hyperaktivität (ADHS). Im Verbund mit Ergotherapie, Verhaltenstherapie, einer langen fachärztlichen Begleitung durch ausgebildetete Kinderneuropsychiater und einer helfenden Unterstützung durch dem Kind emotional nahestehende Menschen ist Ritalin durchaus in der Lage, diese Kinder zu befähigen, ihr Leben trotz der Erkrankung so zu gestalten, dass sie ihre Fähigkeiten und Talente entfalten können. Bei Kevin wurde Ritalin aber nur eingesetzt, um ihn ruhig zu stellen. Dies hat nicht eines seiner Probleme gelöst, es hat diese im Gegenteil nur verstärkt.
Vergebene Alternativen
Wa wäre eine Alternative gewesen? Was brauchte Kevin zuallererst uund was forderte er mit seinen begrenzeten Möglichkeiten ein? Eine Pflegefamilie, die ihm ein intaktes soziales Umfeld bietet, wo er lernt, sich an Regeln zu halten, aber gleichzeitig als Persönlichkeit ernst genommen wird, wäre eine Alternative gewesen. Dies ist in Deutschland auch möglich, ohne dass die leiblichen Eltern das Erziehungsrecht verlieren. In einer vertrauensvollen Kooperation zwischen Jugendamt, behandelnden Ärzten, betreuenden Therapeuten, der überforderten Mutter und den Pflegeeltern hätte Kevin damals ein Nest gebaut werden können, ein Nest der emotionalen Wärme, nach der er sich immer gesehnt und die er nie erhalten hat. Das wäre auch für den Staat immer noch preiswerter gewesen als die folgenden Heimaufenthalte. Was aber noch wichtiger ist, die Sozialprognose wäre deutlich besser gewesen, Kevin hätte eine Perspektive aufgezeigt werden können.
Die Perspektiven
Statt dessen drehte sich der Kreislauf weiter. Kevin verstrickt sich immer mehr in seinen Problemen, er findet keinen Ausweg, sucht Hilfe in Drogen und Alkohol und gerät auf die schiefe Bahn. Auch hier ist die Antwort so stereotyp wie falsch. Kinder -und Jugendpsychiatrie helfen ihm nicht weiter, der Aufenthalt in Schweden genau so wenig. Was ihm immer noch fehlt, ist Anerkennung , die er sich mit Aktionen wie dem Karton mit dem fingierten Milzbrand oder später mit dem Legen dreier Brände verschaffen möchte. Es ist ein Schrei nach Hilfe, hier bin ich, bitte, helft mir, ich kann nicht mehr so leben. Doch statt Hilfe erlebt er Repression des Staates, die ihn schließlich in die Wahnvorstellungen eines Söldners in Afghanistan oder eines Komapatienten treiben. Der Kreislauf bleibt geschlossen, eine Perspektive wird ihm nie aufgezeigt, obwohl es mehr als einmal die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Dass Kevin selber erkennt, dass er krank ist, zeigt doch, dass er seine Situation realistisch einschätzt. Anstatt hier anzusetzen, seine Bereitschaft zu nutzen und ihm Perspektiven anzubieten, erlebt der Junge Stereotypen, wie sie der Staat seit Jahrzehnten einsetzt.
Die Schlussfolgerungen
Das Beispiel Kevin zeigt ein dramatisches Versagen. Es zeigt, wie notwendig es ist, neue, unkonventionelle Wege einzuschlagen. Eine Aufwertung der gesellschaftlichen Stellung von Pflegeeltern, die neben ihren eigenen Kindern auch Kinder aufnehmen, die aus gemeinhin problematisch genannten Elternhäusern stammen, ist dringend geboten. Eine fachliche Weiterbildung von Mitarbeitern der Jugendämter ist genau so notwendig wie eine Abkehr davon, " hyperaktive " Kinder mit Medikamenten lediglich ruhigzustellen. Sicherlich bedeutet dies ein Aufbrechen verkrusteter Denk und Verhaltensmuster , Muster, die sich jahrzehntelang eingeschliffen und in dieser Zeit nur marginal verändert haben. Kinder wie Kevin haben aber auch ein Recht auf eine schöne, erfüllte Kindheit. Nur weil sie keine Wunschkinder sind und ihre Eltern sie emotional ablehnen, darf ihnen dieses Recht nicht genommen werden. Eine Gesellschaft, die Kinder wie Kevin stigmatisiert und ausgrenzt, verdient das Prädikat " kinderfreundlich" nicht.
Ein Fazit
Dieser Artikel war für mich der bisher intensivste aus der Reihe "Berichte aus dem Dunklen". Wenn er bewirken würde, dass unsere Gesellschaft, wir alle , darüber nachdenken, wie wir Kindern wie Kevin das ermöglichen, worauf jedes Kind Anspruch hat, eine glückliche Kindheit, wäre schon viel gewonnen. Wer mit Erwachsenen spricht, die in Kinderheimen aufgewachsen sind, wofür es viele Gründe gibt, bis hin zum Tod der Eltern durch Unfälle, wird immer wieder eines hören. "Es gab eine materielle Sicherheit, aber die emotionale Wärme hat gefehlt". Gelänge es uns, mehr Kinder beispielsweise in Pflegefamilien aufwachsen zu lassen, würde so mancher Erwachsene von seiner Kindheit anders sprechen. Wäre das nicht etwas, wofür es sich zu streiten lohnt?
Diesem Artikel kann man wirklich nicht vorwerfen, er bezöge voreilig zu viele Positionen. Immer, wenn eine Meinung dominant aufscheint, widerlegen die nächsten Sätze das Gesagte.
So muss es sein, wenn eine gute Bio-Reportage, geschrieben von einem Menschen mit professioneller Erfahrung gelingen soll. Auch den Profis, insofern sie nicht schon abgestumpft sind, bleibt der Mund vor Schrecken und Staunen offen, auch sie erliegen einer institutionellen und persönlichen Hilflosigkeit. So ist das gar nicht so selten, und die zahlreichen Einrichtungen vom Heim bis zum Knast, sammeln ein und konzentrieren, wer Hilfe braucht, und manchmal auch nur noch von Institution zu Institution verschoben wird.
Niemand wird unötig angeklagt und verdächtigt, denn am Lebensweg „Kevins“ stehen viele Mütter und Väter, vor allem solche die mit den leiblichen Eltern gar nichts zu tun haben. - Der Straffällige Kevin hat eine Knastkarriere, eine Jugendgerichtskarriere, eine Psychiatrie und Neurologiegeschichte, Akten in den Sozialämtern der Republik, bei der Jugendämtern und in den Jugendhilfeeinrichtungen, eine Schulversagensgeschichte und eine Geburtsanamnese. Das Papier lastet tonnenschwer auf ihm. Es lasten auch bestimmt ein Dutzend, wenn nicht mehr, Helfer- und Therapeutenansichten auf dieser Biografie.
Dies ist mir das aufälligste und hervorstechendes Merkmal in dieser geschriebenen Doku-Faction. Die unglaublich vielen Anlaufstellen und durchaus professionellen Hände, die dem „Fall Kevin“ immer für eine sehr begrenzte Zeit, eine andere Richtung gaben,dann wieder eine und noch eine, ganz andere.
Nimmt man diesen Beitrag, Herrn Netzmanns kluge Beobachtungen (im Thread hier, im eigenen Blog: www.freitag.de/community/blogs/betrachter/eine-entgegnung-auf-was-aus-zappelphillip-wurde- ) und Ben Goldacres These zur Sigmatisierung ( www.freitag.de/wissen/1040-brandmal-adhs ), sei es, weil man eine genetisch bedingte Krankheit annimmt oder, weil man eine soziale und erzieherische Katastrophe beschrieben glaubt und fasst zusammen, dann entsteht das Bild von einem Dunkel, dem keiner so recht trauen kann, selbst die Experten nicht.
Mir fehlt der Faden, die Verknüpfung, die ein oder zwei Bezugspersonen, die bei solchen, zumindest als „Fall“ (das heißt, als individuelles Schicksal, mit Anspruch individuelle Hilfe bekommen zu können anerkannt zu sein) erkannten und vielfältig therapierten Menschen, die Fäden in der Hand halten und koordinieren. Nicht von der Ferne am Schreibtisch, sondern aus der Nähe. - So etwas gibt es im Ansatz in mancher Jugendhilfe, in Rudimenten bei den Staatsanwaltschaften für bestimmte Täter, für ganz wenige Patienten mit ähnlichen Problemen in der Psychiatrie, aber nicht übergreifend.
Ob der Knast da vorteilhafter und vorbildlicher arbeitet, Knastzeit ist viel Lebenszeit, häufiger auch noch einmal nachschaut, was einem Menschen, der es bis dahin geschafft hat, wieder ins alltägliche Leben hilft?
Was also zu fehlen scheint, das ist eine sehr enge und persönliche, professionelle Bezugsperson, so eine Art amtlicher Adoption, die auch mit aller Sorgfalt und Kontinuität ausgeübt wird. - Geht das, in unseren Strukturen?
Christoph Leusch
Vielen Dank für den ausführlichen und interessanten Kommentar/Blogeintrag.