Nach wie vor ist es unfassbar, was sich 1995 bei der bosnischen Stadt Srebrenica ereignet hat. Zwischen dem 11. und 19. Juli wurden hier mehr als 8.000 fast ausschließlich männliche, bosnische Muslime umgebracht: hingerichtet von der bosnisch-serbischen Armee, der Polizei und serbischen Paramilitärs unter der Führung von Ratko Mladić, dem damaligen Oberbefehlshaber der „Vojska Republike Srpske“. Und das quasi unter den Augen der UN-Blauhelme, die in einer Schutzzone nahe der Stadt stationiert waren.
Es gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs und ist ein beispielloses Exempel menschlicher Abgründe; die Rolle, die die Europäische Union und die Vereinten Nationen dabei gespielt haben, war eine mehr als un
ehr als unrühmliche. In einem Interview zu ihrem historischen Thriller Quo vadis, Aida? ließ sich Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić sogar zu einer äußerst pessimistischen Aussage hinreißen: „Bosnien wird niemals Teil der EU sein, weil Brüssel immer noch von einer tiefen Angst vor Muslimen beherrscht wird. Machen wir uns nichts vor: Wenn Srebrenica jetzt wieder geschähe, würde die EU wiederum keinen Finger rühren.“Im Jahr 2020, ein Vierteljahrhundert nach dem Massaker, feierte Žbanićs Drama Quo vadis, Aida? beim Filmfestival in Venedig Premiere und kommt nun mit Corona-Verspätung in die deutschen Kinos. Man kann nur hoffen, dass es in der derzeitigen Flut an Neustarts nicht untergeht.Wie verfilmt man ein bis heute nicht wirklich aufgearbeitetes, gesellschaftspolitisches Trauma? Die bosnische Regisseurin hat den höchst emotionalen historischen Stoff in einen einerseits ausgesprochen nüchternen, andererseits hochintensiven Film gebannt, dessen Drehbuch lose auf dem Buch Unter der Flagge der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft und der Völkermord von Srebrenica des bosnischen UN-Übersetzers Hasan Nuhanović basiert.Eine Kette des VersagensEntlang des persönlichen Schicksals der Heldin Aida, eindrücklich verkörpert von Jasna Ðuriči, schildert Quo vadis, Aida? die Vorgeschichte des Massakers als Verkettung von komplexen Versagenszusammenhängen. Aida, eine ehemalige Lehrerin und Mutter zweier erwachsener Söhne, arbeitet als Dolmetscherin in der UN-Schutzzone. Während Tausende ihrer Landsleute Schutz vor der bosnisch-serbischen Armee im UN-Lager suchen, 5.000 in den Hallen der alten Batteriefabrik bei Potočari, 20.000 vor den Toren, hetzt der Film mit Aida hin und her: zwischen Vermittlungsgesprächen für den niederländischen Bataillonskommandeur Karremans, Megafonansagen an ihre ungeduldig werdenden Landsleute und kurzen Treffen mit ihrem Mann und den beiden Söhnen, die sich unter den Geflohenen befinden. Wohin mit ihnen in dem Gesamtchaos, wie sie schützen?Aida ist die Vermittlerin zwischen den persönlichen und den politischen Fronten in diesem Thriller. Überall wird verhandelt, doch die Kommunikation ist zum Scheitern verurteilt. Die Luftverstärkung, die Mladić und seine Truppen in die Flucht schlagen soll, kommt nicht, Karremans’ Notruf an die UN bleibt ungehört, die Vermittlungsgespräche zwischen dem bosnisch-serbischen General und drei Vertretern der Stadt, alles Zivilisten, sind ein großer Bluff. Der führt schließlich zu dem folgenschweren Fehler, dass die alleingelassenen und überforderten niederländischen Blauhelme bewaffneten Kämpfern Zutritt zur Schutzzone gewähren, um angeblich Soldaten unter den Geflüchteten zu suchen.Man weiß, dass Quo vadis, Aida? kein gutes Ende nehmen kann, für niemanden. Und doch kann man sich der Filmerzählung nicht entziehen. Die 1974 in Sarajevo geborene Regisseurin, die 2006 gleich mit ihrem Spielfilmdebüt Esmas Geheimnis – Grbavica den Goldenen Bären in Berlin gewann, macht einen filmischen Möglichkeitsraum auf, der in subtilen Bewegtbildern vom Unmöglichen erzählt. Die militärische Gewalt manifestiert sich in zwischengeschobenen, fast kontemplativen Szenen. Immer wieder fängt die Kamera der Österreicherin Christine A. Maier die Menge der Zigtausenden Menschen vor den Zäunen der UN-Schutzzone ein, beim einzigen Rückblick in diesem gefühlt wie in Echtzeit erzählten Film sieht man einmal Gesichter beim Tanz, ein gelöster Moment aus längst vergangenen Zeiten. Das ganze Grauen steckt in einem einzigen Kameraschwenk: von Männerbeinen, die auf einen Lkw klettern, hinüber zu einem Bus, hinter dessen Scheiben Frauen und Kinder sitzen.Dass Žbanić die visuelle Subtilität am Ende zugunsten eines sehr direkten Bildes aufgibt, ist konsequent, wäre in dieser Form aber nicht nötig gewesen. Ihr gelingt es schon davor, die Geschehnisse unmittelbar vor dem Massaker filmisch einzufangen und dabei noch viel mehr zu erzählen: von einer tragischen Figur, die, stellvertretend für ihre Landsleute, nur verlieren kann. Der Film erzählt vor allem auch von den unfassbaren, bis heute unaufgearbeiteten Überschneidungen. Man muss einmal versuchen sich vor Augen zu führen, was das bedeutet: Nachbarn, Freunde, Lehrerinnen und Schüler werden zu Feinden und leben später in einem komplexen Täter-Opfer-Geflecht nebeneinander weiter. Quo vadis, Aida? ist ein Film gegen das Wegsehen.Placeholder infobox-1