Was dem Selfmademan gefällt

Geld Die Französin Nathalie Sarthou-Lajus schreibt den Anti-Graeber und sucht den guten Kern der Schulden
Ausgabe 37/2013

Das Nachdenken über Schulden ist seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 zu einem Top-Thema geworden und fast emblematisch mit dem Namen David Graeber verbunden. Einen ungewöhnlichen Zugang bietet nun ein Essay aus Frankreich an. Nathalie Sarthou-Lajus versteht Schulden als eine anthropologische Konstante und nicht nur als ein ökonomisches oder gesellschaftliches Zwangsverhältnis. Diese Vorstellung wirkt auf den ersten Blick verharmlosend, da sie nahelegt, Schulden als etwas Naturgegebenes zu definieren.

Schulden, behauptet die Philosophieprofessorin und Journalistin, sind eine „Grundgegebenheit, die die ursprüngliche Situation des Menschen in seiner Beziehung zu anderen und zur Dimension der Zeit charakterisiert.“ Man beschreibt den Menschen nicht richtig, wenn man ihn entweder als unabhängiges Individuum definiert oder als insolventen Schuldner, der einer höheren Macht ausgeliefert ist. Die Famlie zum Beispiel sei ein von Schulden und Gaben durchzogenes Gefüge, in dem auf die Zukunft gerichtete Verantwortlichkeiten wirksam werden. Das reicht von der Weitergabe des Lebens durch die Geburt bis hin zur Verantwortung von einer Generation für die nächste. Aber auch außerhalb dieses gesellschaftlichen Nukleus durchziehen Schuldverhältnisse unser Leben. Nietzsche ging davon aus, dass das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner die älteste Verbindung von Mensch zu Mensch ist. Denn erst mit dem Versprechen, etwas zurückzugeben, entstehen ein auf die Zukunft gerichtetes Bewusstsein und gleichzeitig eine moralische Verpflichtung.

Die Lüge der Unabhängigkeit

In unserer Gesellschaft sollte die Zukunft eigentlich als Quelle von Möglichkeiten begriffen werden. Genau das verspricht auch der liberale Kapitalismus, der das Individuum aus den archaischen Fesseln feudaler Abhängigkeiten befreit hat. So jedenfalls beschreibt es Sarthou-Lajus. Dabei berücksichtigt sie kaum die brutale Eingliederung des frühneuzeitlichen Menschen in die beginnende industrielle Produktion oder die zahlreichen Landenteignungen bis in unsere Tage. Sarthou-Lajus formuliert vielmehr die Nöte einer im Zuge der aktuellen Finanzkrise in Bedrängnis geratenen Mittelschicht, der die Zukunft mehr und mehr als Bedrohung erscheint und in der sich weltweit die Lust auf Protest ausbreitet.

Der kanadische Schriftsteller Jacques Godbout bezeichnete den kapitalistischen Markt als eine „einzigartige Schuldentilgungsmaschine“, in der bisher alle Verpflichtungen transparent auf- und abgerechnet werden konnten. Nun wird laut Sarthou-Lajus aber zunehmend die „undurchsichtige Sphäre der Finanzwelt“ zum wirkmächtigen ökonomischen Instrument. Insofern zielt ihrer Meinung nach die aktuelle Kritik, die am Kapitalismus geübt wird, auf „den Verrat am Versprechen individueller Unabhängigkeit, das dieser einst selber gab“. Aber war diese individuelle Unabhängigkeit nicht eher ein hehrer Anspruch liberaler Ideologie denn vorherrschende Wirklichkeit?

Die Idee eines befreiten Subjekts sieht Sarthou-Lajus am deutlichsten in der Figur des „Selfmademans“ verkörpert. Frei von allen Bindungen ist er nur seiner eigenen Person verpflichtet. Alle anderen Bindungen sind in seinem von ihm selbst geformten Leben unwirksam geworden. Dass diese individuelle Allmacht lediglich eine Projektion ist, die den realen Lebensumständen der meisten Menschen in unserer Gesellschaft keineswegs entspricht, weiß auch Nathalie Sarthou-Lajus.

In jüngster Zeit, sagt sie, weicht diese Figur dem in Netzwerken organisierten Opportunisten, der nur sein eigenes Gesetz kennt und dessen unbegrenztes Streben nach Profit und Genuss auf Kosten der anderen geht. An dieser Stelle mag man an den Banker denken, der beim Versuch, die Krise zu personalisieren, gerne als verantwortlicher Akteur benannt wird. Hier bringt Sarthou-Lajus den guten Kapitalismus gegen den bösen in Anschlag – eine heute geläufige Art der Systemkritik, die wohl leider zu kurz greift.

Lob der Schulden Nathalie Sarthou-Lajus. Wagenbach 2013, 96 S., 13,90 €

Florian Schmid ist freier Literaturkritiker. Zuletzt schrieb er im Freitag über Science-Fiction

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