Was die Tech-Industrie mit Marx zu tun hat

Tal der Träumer Ist der kaltblütig kapitalistische Prozess der Modernisierung auch die Grundlage für die Emanzipation der Arbeiterklasse?
Ausgabe 26/2017
Willkommen im Fortschritt
Willkommen im Fortschritt

Foto: Yoshikazu Tsuno/AFP/Getty Images

Kennen Sie das? Sie gehen morgens aus dem Haus, steigen in die U-Bahn zur Arbeit, checken Ihren Facebook-Feed, verabreden sich über Whatsapp zum Abendessen und stellen plötzlich fest: Sie haben ganz vergessen, die Bourgeoisie zu stürzen und die Produktionsmittel an sich zu reißen! Geht mir auch so. Und dann fällt mir wieder ein, dass „Prolet“ irgendwie vom Demonym der Kämpferklasse zum Schulhof-Schimpfwort wurde, und dass das einzige Gespenst, welches in Europa umgeht, das App-Icon von Snapchat ist. Wieso ist von Marx, der dafür bekannt war, im Großen und Ganzen immer Recht zu haben, nicht viel mehr übrig geblieben als ein Bart-Modell für Hipster, die Flanellhemden tragen?

Die Antwort ist: Silicon Valley. Na gut, die echte Antwort sind vermutlich die Bolschewisten, aber lassen Sie mich mal kurz ausholen: Das Proletariat ist verschwunden. Als sich Marx das letzte Mal rasiert hatte, gehörten fast 90 Prozent der Bevölkerung zum Proletariat, arbeiteten auf Feldern und in Fabriken, die nicht ihnen gehörten. Heute sind in den meisten Ländern der nördlichen Hemisphäre nahezu 80 Prozent der Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor tätig, sind also Lohnarbeiter, verdienen ihr Geld jedoch, indem sie ihr Human- und Bildungskapital ausschöpfen. Kapital, das mehr oder weniger frei zugänglich ist. Jedenfalls mehr als zur Zeit von Karl Marx’ Bart.

Das aber ist nur möglich, weil heute das verbleibende Fünftel im Agrar- und Industriesektor per Arbeitskraft pro Kopf viel mehr produzieren kann als 1848. Im Klartext: Wir produzieren heute viermal so viele Nahrungsmittel auf einem Drittel der Fläche mit einem Zehntel der Bauern. Warum? Wegen des technologischen Fortschritts.

Womit wir wieder beim Silicon Valley wären, denn den technologischen Fortschritt haben wir uns hier quasi auf die Stirn tätowiert. Oh ja, genau der Fortschritt, der heute alle Jobs wegautomatisiert und den Weg zu einem dystopischen Diktat der Maschinen bereitet. Der Fortschritt, vor dem Taxifahrer und Radiologen zittern. Der Fortschritt, den die Regierung aufhalten möchte, um Arbeitsplätze im Kohle-Bergbau zu retten.

Natürlich nehmen Roboter uns nicht einfach die Jobs weg, weil ihre Lebensläufe besser sind. Technologie macht Menschen produktiver, im trockensten Sinn des Wortes: von der Sichel zum Mähdrescher, alles hilft, um mehr Arbeit in der gleichen Zeit zu verrichten. Oder in kürzerer Zeit die gleiche Menge zu produzieren. Und wenn die Nachfrage an irgendetwas natürlich begrenzt ist, dann brauchen wir halt weniger Arbeitskräfte.

Ironischerweise ist dieser kaltblütig kapitalistische Prozess der Modernisierung auch die Grundlage für ein bedingungsloses Grundeinkommen, ein steigendes Bildungsniveau und die damit einhergehende Emanzipation der Arbeiterklasse. In einem perversen Twist hilft also die Tech-Industrie, die Welt ein bisschen marxistischer zu machen. Aber eben nur ein bisschen. Denn klar: Der Kommunismus hat auch heute noch ein paar überzeugende Argumente. Aber der Kapitalismus hat Netflix.

Manuel Ebert hat Neurowissenschaft in Osnabrück studiert. Er lebt und arbeitet als Berater in San Francisco

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Manuel Ebert

Manuel Ebert ist Autor, Ex-Neurowissenschaftler, und Data Scientist. Seine Consulting-Firma summer.ai berät Firmen in Silicon Valley.

Manuel Ebert

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden