Was guckst du

Ertappt Die Soziologin Laura Wiesböck folgt unseren abwertenden Blicken
Ausgabe 41/2018

Moderne Lebensentwürfe können deprimierend sein. Ein besonders trauriges Beispiel ist die junge Frau, die ein unbezahltes Praktikum in einem Kulturbetrieb in Wien oder Berlin absolviert. Ein MacBook und perfektes Englisch bringt sie selbstverständlich mit. Nach ihrem Zehnstundentag geht sie zum Yoga und isst eine Bowl Avocadosalat, anstatt sich gewerkschaftlich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Und ein Blick auf die SPD reicht ihr, um zu wissen, dass Parteien von gestern sind. #SadWhiteMen.

Es gibt aber auch den IT-Typen, der sich am Tischkicker seines Start-ups über die Angestelltenmentalität der Old Economy mokiert, die kroatische Marktfrau, die in Wien über die Ansprüche junger Araber lästert, und natürlich die Liebhaber fair gehandelten Superfoods, die keinen Fuß in einen Discounter setzen würden.

Die Wiener Soziologin Laura Wiesböck fährt in ihrem Buch In besserer Gesellschaft eine ganze Parade moderner Existenzen auf, die sich ihrer eigenen Position dadurch vergewissern, dass sie andere abwerten. Das Gegenüber wird gelabelt und abqualifiziert. Politischer Dialog, der darauf basiert, andere zu verstehen, wird unmöglich, meint Wiesböck: „Die Verleumdung und das Heruntermachen Andersdenkender bedroht unsere Demokratie.“ Sie plädiert für eine Diskussionskultur, die andere Menschen weder diffamiert noch sozial isoliert.Schlaglichtartig beleuchtet Wiesböck, wo Selbstgerechtigkeit den Blick auf die wahren gesellschaftlichen Konfliktlinien verstellt. Beispiel Arbeitsleben: An die Stelle von solidarischem Miteinander sei die Anpassung an den Markt getreten, im permanenten Wettbewerb gelte es, die eigene Employability herauszustellen. Schön hereingefallen, meint Wiesböck, sei die Mittelschicht damit auf die Propagandisten des maximalen Kapitalismus, auf Steve Jobs, Sheryl Sandberg und Oprah Winfrey, die nun als Propheten eines gelungenen Arbeitslebens gelten: Erfolg haben wird, wer genug Leidenschaft aufbringt. Nebeneffekt der neuen Arbeitsmoral: Die Menschen leiden mehr an den Defiziten der eigenen Person als an den Zuständen in der Gesellschaft. Bei Genderfragen weiß die Autorin gar nicht, wo anzufangen, angesichts der Vielzahl ungerechter Zuschreibungen, doppelter Standards und blinder Flecken. Im flotten Ritt streift sie männliches Dominanzverhalten und Gewalt gegen Frauen, Victim-Blaming, Paygap und die Steuerkategorien für Artikel der Monatshygiene. Beim Thema Einwanderung zeichnet Wiesböck nach, wie Wertigkeiten nach Kategorien der Produktivität verhandelt werden. Ebenso flott verhandelt sie Abwertungsmechanismus mit Blick auf Kriminalität, Armut oder Konsum. Im Kapitel Politik ächzt sie über Identitätspolitik, Narzissmus und Infantilisierung.

Lob der Stillen

Leiten lässt sich Wiesböck von der Maxime, dass eine andere Position niemandem zum Menschen zweiter Klasse macht. Systematisch geht sie dabei allerdings nicht vor, mal geht’s ihr um die Sache, mal um die Form, mitunter belässt die Soziologin es auch bei der gefühlten Empirie. Und nicht immer weiß man, welche Dimension der Intoleranz die Autorin gerade verhandelt: Nervige Hipster-Attitüden, den bürgerlichen Willen zur Distinktion oder die umfassende gesellschaftliche Entsolidarisierung. Doch in den stärksten Passagen gibt Wiesböck manch festgefahrener Diskussion einen neuen Drive. Denn sie sprüht vor Eloquenz und Argumenten.

Besonders originell ist ihr Plädoyer für die Introvertierten, die in der Ökonomie der Aufmerksamkeit von den Extrovertierten so gnadenlos an die Wand gespielt werden. Die Introvertierten legen es einfach nicht darauf an, sich ständig Aufmerksamkeit und Feedback zu organisieren, erklärt Wiesböck, sie folgten einer ganz anderen Motivation, nämlich Sachverhalte zu verstehen und zu durchdringen, hochwertige Arbeit und durchdachte Lösungen zu entwickeln. Was für ein eigensinniger Gedanke in Zeiten von Ich-Vermarktung und Großraumbüros.

Info

In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen Laura Wiesböck Kremayr & Scheriau 2018, 208 S., 22 €

Zu den Bildern

Die Bilder dieser Beilage stammen aus dem Fotoprojekt „The Broken Sea“ von Nata Sopromadze und Irina Sadchikova.

Nata Sopromadze wurde in Sochumi geboren, das ist die Hauptstadt der Autonomen Republik Abchasien am Schwarzen Meer. Nata war 12 Jahre alt, als die Familie nach Tiflis floh und alles zurücklassen musste. Seither hat Nata die Orte ihrer Kindheit nie wieder gesehen, sie darf in ihre Heimat nicht einreisen.

Ihre Freundin Irina Sadchikova ist in der Ukraine geboren, sie lebt derzeit in Moskau. Irina hat die Orte von Natas Kindheit besucht und fotografiert. Nata benutzte die Filme, sie fotografierte damit ihr Leben, ihre Kinder und sich, ohne zu wissen, was sie doppelbelichtet. Entstanden sind traumschöne Zufallsaufnahmen, ein Manifest für die Freiheit.The Broken Sea ist nominiert für den Unseen Dummy Award, mehr Information gibt’s hier: www.brokensea.photoshelter.com

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