Der Streit, ob psychische Krankheiten von der Umwelt verursacht werden oder ob sie genetisch bedingt sind, ist alt. Professor Peter Hagemann will die Kluft zwischen Psychiatrie und Anthropologie überbrücken.
FREITAG: Wie kamen Sie als Fachmann der Psychiatrie dazu, die Brücke zur Anthropologie zu schlagen?
PETER HAGEMANN: Mir war unverständlich, wieso die Erkenntnisse aus dem Studium der Geisteskrankheiten kaum in die allgemeine Theorie vom Menschen eingegangen sind. Wenn die Kennzeichnung des Menschen als Homo sapiens treffend genug wäre, dann müsste man den Schwachsinn als markanteste Krankheit seines wichtigsten Organs, des Gehirns, ansehen. Gehirne aber gibt es fast im ganzen Tierreich und entsprechende Abbausymptome auch. Der Schwachsinn ist keine Besonderheit des Menschen. Erwägenswert ist dagegen, in den so genannten endogenen Psychosen spezifischere arteigene Erkrankungen des Menschen zu sehen. Ich meine jene geheimnisvollen geistigen Leiden, die die Menschen schwer treffen, obwohl sie bei Bewusstsein und durchaus auch intelligent sind. Dieser Widerspruch bedeutet auch: Das Gehirn, obwohl in Form, Farbe, Struktur und so weiter völlig unauffällig, macht seinen Träger zu einem Schwerkranken - jedenfalls existenziell und im Sozialgeschehen. Ich meine die manisch-depressiven und die schizophrenen Störungen. Ich bin zu der Auffassung gekommen, dass sie sich in der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen herausgebildet haben und direkt auf die Soziabilität des Menschen und zugleich auf Defizite derselben verweisen. Die spezifische menschliche Beziehungsfähigkeit hat einerseits das Heraustreten aus dem Tierreich ermöglicht, macht die Individuen aber auch abhängig vom Funktionieren komplexer sozialer Beziehungen.
Könnten Sie etwas genauer erläutern, wie Sie sich das Entstehen dieser Erkrankungen vorstellen?
Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Auffassungen, die sich auf biologische, und solche, die sich auf soziale Ursachen beziehen. Das hat große Nachteile, theoretisch wie praktisch-therapeutisch. Die biologische Lehrmeinung setzt auf Stoffwechselstörungen und Erblichkeit, die soziale auf deren gesellschaftliche Bedingtheit. Mein Vorschlag für die Überwindung der Kluft wäre, dass die soziokulturellen Faktoren in der Menschheitsentstehung die Hauptrolle spielten. Sie sind entwicklungsgeschichtlich die größte Novität und auch am kompliziertesten. Könnte man den aufrechten Gang noch vorwiegend als biologische Errungenschaft am Skelettsystem bezeichnen, so ist alles Nachfolgende als vorwiegend soziokulturelles Gut zu kennzeichnen: Sprache, Feuernutzung, Bekleidung, Überwindung des jährlichen Sexualrhythmus (Brunst), Arbeitsteilung und vieles mehr. Die entscheidende Folgerung ist nun, dass diese menschlichen Merkmale ihren erblichen Niederschlag gefunden haben. Am besten wir drehen die Sache gleich um und sagen: Die Spezifik des menschlichen Erbguts sind seine soziokulturellen Anteile. Der Mensch ist die soziokulturelle Art. Der Austragungsort dieser Veränderungen ist das Gehirn. Entstehungszeit ist die Periode der Menschheitsentwicklung und die Hauptkennzeichen dieser, wenige Millionen Jahre zurückliegenden Periode wiederholen sich in der Individualentwicklung des Menschen in seinem sozialen Raum.
Das ist eine gewagte Behauptung: Steinzeit ist nicht Moderne.
Aber es kommt - wenigstens für eine Zeitlang - auf den raschen Fortschritt in der Soziabilität an. Das gilt sowohl für die stammesgeschichtlich-genetische wie für die aktuell-persönliche Entwicklung eines jeden. Diese Erkenntnis wäre von großer Bedeutung für soziale Fragen bis hin zur Erhaltung des Friedens. Die Sprache beispielsweise ist der Inbegriff des sozialen Kulturguts. Interessant sind Bemühungen, unsere äffischen Verwandten zum Sprechen zu bringen, aber letztlich gilt: Nur der Mensch kann sprechen. Zwei Millionen Jahre könnte die Sprache alt sein. Dafür gibt es zwar wenig Spuren in den Knochenfunden. Aber der französische Mediziner und Anthropologe Paul Broca (1824-1880) hat bereits herausgefunden, dass unser Gehirn eine Region enthält, ohne die wir nicht sprechen können. Dieses Spätprodukt der Evolution ist eindeutig soziokulturellen Ursprungs und erblich verankert, es ist aber auch Biologie. Wir lernen Sprache erst in der Kindheit und immer im sozialen Zusammenhang. Die neurophysiologischen Grundlagen bringen wir jedoch mit, als Erbgut des Homo sapiens.
Gibt es noch andere Beispiele für die Besonderheit der bio-sozialen Menschheitsentwicklung?
Die Relation zwischen Angeborenem und Erlerntem gilt auch für andere Prozesse, etwa Sozialverhalten, Sexualität und so weiter. Interessant ist auch der Fellverlust des Menschen - für viele Anthropologen ein Rätsel. Ich meine, der Fellverlust erfolgte durch die Bekleidung, das heißt durch fremde Felle, durch Behausung, Feuerwärme ... Es ist zwar richtig, dass Klimafragen eine Rolle spielten, aber nicht nur im Sinne der epochalen Temperaturwechsel. Vielmehr sind es die täglichen Tag-, Nacht- und jahreszeitlichen Schwankungen, die von dem angewachsenen Pelz zur ablegbaren Bekleidung drängten. Es war eine Frage der konstanten Körpertemperatur. Darin liegt der eindeutige evolutionäre Gewinn, der dann die nahezu explosionsartige Verbreitung des Menschen über die Erde ermöglichte. Eisbären und Menschenaffen bleiben lokal begrenzt. Hinter dem scheinbaren Rätsel steckt wohl konservativer Denkballast in dem Sinne, dass angenommen wird, soziales könne nicht erblich sein. Bekleidung ist jedoch als menschliches Sozialprodukt zu verstehen und das biologische Ergebnis - die Haarlosigkeit - ist eindeutig erblich. Soziales im Erbgut? Ja, genau das.
Tatsächlich hatte schon der Neandertaler keinen Pelz mehr. Kommen wir auf das Psychische und die Geisteskrankheiten zurück.
Die Hauptveränderungen im Tier-Mensch-Übergang fanden im Verhalten statt, wo sich ein höherer soziokultureller Standard herausbildete. Das ist vorrangig Sache des Gehirns. Dessen Anwachsen um das drei- bis vierfache bedeutet nicht nur Gewinn von Intelligenz, sondern auch im Soziokulturellen. Das Hirnwachstum allein reichte aber nicht, um den hohen Leistungsstand zu erreichen. Es müssen auch große strukturelle Umbauten erfolgt sein - im Verschaltungssystem der Neuronen und in deren Chemismus, die den Wirkungsgrad verbessert haben. Nun zu den manisch-depressiven Erkrankungen. Im Kern steht da ein System der Gestimmtheit, der Lust-Unlust, der Freude-Trauer im Tagesablauf, im Wochenwechsel oder auch längeren Perioden. Es ist intensiver, als wir es alle kennen oder auffälliger, und leidvoll bis zur Krankhaftigkeit. Die Mediziner haben herausgefunden, dass diese Art Krankheiten zweipolig verlaufen, dass das gleiche System nach zwei Polen ausschwingt. Die Stimmung ist gehoben oder gesenkt, der Lebensschwung dreht im einen Falle so hoch, dass der Betroffene sich gefährlich verwickelt, im anderen sackt er so ab, dass ein Selbstmord droht. Die Psychiatrie verhilft also zu wesentlichen Erkenntnissen zur Erbstruktur des Menschen: Im Verlauf der Artbildung entwickelte er ein wesentlich feineres und intensiveres Regulationssystem der Stimmung - auf Kosten der Anfälligkeit allerdings. Die Prognose ist jedoch günstig, denn am Gehirn wird dabei nichts zerstört.
Das verweist auf die Möglichkeit sozialer Lösungen sowohl hinsichtlich der Zukunft der Individuen, aber auch der ganzen Art. Sie behaupten, manisch-depressive Erkrankungen gäbe es bei Tieren nicht. Aber es gibt doch Stimmungsschwankungen, zum Beispiel bei Hunden und Katzen?
Tatsächlich kann man sie im Verhalten höherer Tiere beobachten. Auch bei ihnen stehen sie in Bezug zum Erleben. Ein entsprechendes Vitalitätssystem muss sich über lange Strecken der Evolution herausgebildet haben. Die entscheidende Perfektion erfolgte aber beim Menschen. Auch Vorformen von Sprache finden sich ja bei Tieren. Jedes neue oder weiterentwickelte System bringt neben dem evolutionären Gewinn auch genetische Risiken: Der aufrechte Gang steigerte das Risiko des Hirn-Traumas. Im Falle des Stimmungssystems sind einige Prozente der Menschheit erblich mit der Regulationsstörung belastet und für sie anfällig.
Welche Bedeutung haben diese Erkenntnisse für Psychiatrie und Anthropologie?
Man kommt zu einer höheren Bewertung der Kategorien Stimmung und Antrieb innerhalb der Psychologie. Interessant für die Anthropologie ist, dass stimmungsbedingte Reaktionen - jedenfalls für den Urmenschen - von größerer arterhaltender Bedeutung waren als bisher angenommen.
Und wie erklären Sie schizophrene Erkrankungen?
Darunter wird sehr Unterschiedliches zusammengefasst. Mein theoretisches Angebot lautet: Die Schizophrenien sind im Kern Insuffizienzen, Deregulierungen der soziokulturellen Anlagen des Menschen
Was genau verstehen sie unter Soziokultur?
Ich verstehe darunter die Kultivierung des Sozialen, keinesfalls nur die Addition von Kulturellem und Sozialem. Sozialisierungen gibt es vielfältig in der Geschichte des Lebens. Sie haben eine jeweils fest geformte Struktur erreicht und blieben unbewusst. Allein der Mensch hat sie kultiviert, zum Beispiel durch die Sprache, durch die immense Qualifizierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, auch durch die Modulationsfähigkeit der Stimmung. Die besonders lange Entwicklungsperiode des Menschen in Kindheit und Jugend ist vom Aufbau der psychosozialen Kompetenz erfüllt. Man kann das auch Aufbau der gesellschaftlichen Verantwortung nennen oder Entwicklung der Liebesfähigkeit. Das Verdörren der Zuwendungsenergie ist eines der zentralen Symptome der Schizophrenie. Der Kern des Sozialen, der zwischenmenschliche Bezug stirbt ab. Das gilt für den Arbeitsbereich wie für das Private. Schließlich leiden auch das Denkvermögen und die Wahrnehmung. Typisch ist das Stimmenhören. Die Kranken hören nicht Stimmen schlechthin, sondern Gesprochenes, also Inhaltliches. Mithin ist Sprache am Werk, Menschliches, nicht einfach ein biologisches Agens wie Stimme. Die Schizophrenie ist eine der typischen - und in der Rangordnung höchsten - genetischen Insuffizienzen aus dem Tier-Mensch-Übergang bei der Ausbildung der soziokulturellen Art. Deutlicher, aber noch komplizierter als die manisch-depressiven Krankheiten bieten die Schizophrenien ein Panorama der vom Menschen bei seiner Herauslösung aus dem Tierreich entwickelten Fähigkeiten - und zwar an Hand ihres Ausfallbildes. Unsere Ausstattung an soziokulturellen Grundspielregeln ist durchaus noch nicht ausreichend erforscht.
Ihre Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Biologie und Kultur hätte enorme Konsequenzen für die Bedeutung sozialer Bezugsräume?
Wieder möchte ich auf den Begriff der Liebe kommen, vor dem sich die Wissenschaften meist drücken. Liebe ist doch eine ganz große menschliche Erfahrung, ein riesiger Erlebniskomplex, in dem sich auch die Kultivierung des Sozialen zeigt, die sich im Laufe der Menschheitsentwicklung herauskristallisiert hat. Die erblichen Anteile dieses großen Gewinns sind nicht gerade penetrant, aber doch deutlich erkennbar. Große soziale, pädagogische und konfessionelle Bemühungen sind erforderlich, um da ein gutes Level zu pflegen.
Das Gespräch führte Sabine Kebir
Professor Dr. Peter Hagemann wurde 1920 in Leipzig geboren und war Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. 1966-1985 leitete er das Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Herzberge in Berlin. Das Gespräch wurde angeregt von seiner Publikation Betrachtungen zur Menschwerdung. Biologie, Soziokultur, Geisteskrankheit, hrsg. vom Verein für Psychiatrie und Gesellschaft e.V., Berlin 1999.
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