Was hatten wir Muße, damals beim „Sonntag“

Medientagebuch Früher war alles besser? Natürlich auch im Zeitungswesen. Zum Beispiel der "Sonntag"
Was hatten wir Muße, damals beim „Sonntag“

Foto: privat

Früher – das ist das Passwort, das die Stimmung hebt. Früher war die Welt noch in Ordnung. Früher war alles besser. Natürlich auch im Zeitungswesen. Zum Beispiel der Sonntag, der dem Freitag voranging. Zwanzigtausend Auflage, dabei hätten wir eine Million verkaufen können, oder zwei oder drei, aber wir durften ja nicht, die Leser konnten ein Sonntag-Abo nicht erwerben, nur erben. Die kulturpolitische Wochenzeitung der DDR hatte nämlich einen schlechten Ruf: Sie war von der Partei als „konterrevolutionäre Plattform“ enttarnt; außerdem herrschte Papierknappheit. Nachdem jene Marxisten, die ihre Vorschläge zur Verbesserung des Sozialismus im Sonntag platziert hatten, längst verhaftet waren und ihre Strafe schon abgesessen hatten, als der Duft der Rebellion verflogen war, da kamen wir, die Absolventinnen.

„Mark Twains Mississippipost“ wurde die Redaktion am Hausvogteiplatz von Kennern genannt. Sie war in einem einsam stehenden, schmutzig-gelben alten Haus untergebracht, in dem irgendwann mal die Hausvogtei residiert hatte: „Wer die Wahrheit saget und bleibet dabei, der kommt nach Berlin in die Hausvogtei.“

Die Einrichtung bestand aus Fundstücken von vor dem Krieg, von früher, wo alles besser war. Schreibtische mit Cognacflecken, ausgeleierte Drehstühle und abgesessene Clubsessel, klapprige Schreibmaschinen ungeklärter Provenienz, schwarze Telefonapparate mit der Patina früher Hitchcockfilme sowie flackernde Tischlampen mit Bauhaus-Flair. Zwischen den Resten heruntergekommener Bürobürgerlichkeit ließ sich wohlig redigieren. Was hatten wir für Muße. Was für Zeit für unsere Texte. Und Lust zum Spielen. Ideen regneten wie Konfetti auf den Kantinentisch und wurden weggefegt, zur Verwirklichung seiner Ideen war keiner verpflichtet, früher war alles besser. Zum Beispiel im Feuilleton der zwanziger Jahre, das unser heimliches Vorbild war.

Das Sonntag-Personal war eigenwillig. Herr Stolzenau, der Kraftfahrer, wurde nicht damit fertig, dass er für „ein einziges Mal im Stehen“ lebenslang Alimente zahlen musste. Der Bote Winkelmann, klein, bebrillt, picklig, weigerte sich mal, ein Manuskript zu einer bettlägerigen Kollegin zu bringen, weil doch, so sagte er, „gerade die Sexwelle umgeht“. Bei einem Betriebsausflug ins Grüne übernahm der Bote Winkelmann die Führung, man lebte in der sozialistischen Menschengemeinschaft.

Alle ihm nach, hinter dem Boten her, die Redakteure, die Ressortleiter und Bernt von Kügelgen, hoch gewachsener Chefredakteur von baltischem Adel, ehemals Wehrmachtsleutnant und Mitbegründer des Nationalkomitee Freies Deutschland, er erlaubte seinen Redakteurinnen, gut zu schreiben, obwohl er linientreu war. Als Kügelgen in Rente geschickt und sein Nachfolger installiert wurde, erschien die SonntagMannschaft in tiefem Schwarz.

Die Redaktion – eine alte Schaluppe mit bunter Besatzung. Ein Paradies für junge Frauen, die sich leisten konnten, wenig zu verdienen, und für Männer, die tagsüber lieber mit hübschen Absolventinnen zusammen waren, als Karriere machen und schlecht schreiben zu müssen. Man siezte sich beim Sonntag, das forsch verschwindelte Genossen-Du passte uns nicht; wir wollten anders links sein. Ab und an konnten wir uns sogar als Helden fühlen, weil zwischen den Zeilen die Wahrheit zwinkerte und ausgehungerte Leser Solidaritätsadressen sandten.

Schöne Schreibmaschinen, antike Möbel, sagenhafte Auflage. Dazu ein Offizier als Chef und eine Vergangenheit als Plattform. Früher war alles besser.

Jutta Voigt arbeitet heute als Reporterin und Buchautorin (Spätvorstellung, Aufbau 2012)

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