Generalsekretär Müntefering (SPD) zählte am Tag nach der Wahl das Scheitern der PDS zu den drei großen Wahlzielen, die von der SPD erreicht worden seien, und fügte genüsslich hinzu: "Was will man mehr!" Der Hohn für die sich über Monate anbiedernde PDS war unüberhörbar und verdient. "Mittelfristig überflüssig" soll sie nach Ansicht des alten und neuen Kanzlers werden. Wie Schröder in der ersten SPD-Fraktionssitzung nach dem 22. September meinte, seien die demokratischen Sozialisten nach ihrem Wahldebakel bundespolitisch bedeutungslos geworden. Nun müsse es darum gehen, "denen, die da noch aktiv sind, Perspektiven zu bieten, um die zu werben".
Tatsächlich verringert der deutlich verpasste Einzug der PDS in den Bundest
en Bundestag deren Möglichkeiten, als einzig entschiedene Opposition gegen Krieg und für eine soziale Alternative zum Neoliberalismus zu wirken und wahrgenommen zu werden. Niemand in der PDS und ihrer Wählerschaft sollte sich noch einmal selbst betrügen: Die Perspektive der Partei ist durchaus gefährdet. Warum die stellvertretende Parteivorsitzende Petra Pau, die unmittelbar vor dem 22. September selbst offensichtlichste (negative) Tatsachen nicht zur Kenntnis nahm und einen illusionären und deaktivierenden Optimismus verbreitete, bereits jetzt (s. Interview in der Chemnitzer Freien Presse am 7. Oktober) die Aussichten der PDS 2004 (Europawahl) und 2006 (Bundestagswahl) in Frage stellt, bleibt jedoch rätselhaft.Trotz der offenkundigen Probleme sind aus meiner Sicht nicht nur die Notwendigkeit einer sozialistischen Linkspartei in Deutschland, sondern auch beträchtliche Potenziale für sie erhalten geblieben: Erstens haben mehr als sieben Prozent aller Wählerinnen und Wähler bereits mindestens einmal für die PDS gestimmt, darunter viele noch vor elf Monaten in Berlin, die jetzt nicht mehr erreicht wurden. Sie haben keine unüberwindbare Abneigung gegenüber der PDS und können zurückgewonnen werden, zumal vom linken (und ostdeutschen) Wahlkampf der rot-grünen Regierung in den nächsten Monaten wenig übrig bleiben wird. Zweitens ist die PDS immer noch eine der drei großen Parteien in Ostdeutschland (noch 1999 erhielt sie dort - alle Wahlen summiert - mehr Stimmen als die SPD). Drittens hat die PDS trotz Überalterung eine immer noch überdurchschnittlich aktive Mitgliedschaft und in Ostdeutschland soziale Wurzeln, die sich zumindest teilweise erneuern werden. Sie hatte bei den Wahlen 1999 und 2001 auch die jüngste Wählerschaft. Schließlich wird Rot-Grün in entscheidenden Fragen rasch viel Platz und vor allem Verantwortung für eine linke Partei lassen: im Widerstand gegen den Amoklauf der USA; im Konflikt um die soziale Erneuerung oder Demontage der solidarischen Krankenversicherung; im Streit um den nötigen radikalen Politikwechsel gegenüber Ostdeutschland - nicht zuletzt in der Beschäftigungspolitik, bei der das Hartz-Konzept den offiziellen Einstieg in Niedriglohnarbeit und die rigide Vermarktung von Arbeitskraft anvisiert.Der 22. September hat allerdings auch die enormen Defizite und Fehler der PDS offenbart und für zusätzliche Schwierigkeiten gesorgt. Dazu ist fast überall so viel Richtiges gesagt worden, dass ich auf Wiederholungen verzichte. Hervorheben will ich nur zweierlei: die Selbstgenügsamkeit und Selbstbeschäftigung der PDS. Statt sich mit allem Ernst - natürlich nicht opportunistisch, sondern als linke Partei! - der realen Interessen, Erfahrungen und Erwartungen der Wähler anzunehmen, musste bei vielen der Eindruck entstehen, es gehe der Partei primär um ideologische Glaubenssätze und einen wie auch immer gearteten Regierungsanteil. Ein Wahlplakat mit dem Foto dreier junger PDS-Kandidatinnen und Kandidaten und dem Slogan "Wir sind dran!" dürfte ziemlich charakteristisch dafür gewesen sein, wie wenig die PDS darauf aus war, den Wählern zu sagen: Wenigstens einmal in vier Jahren seid ihr dran! Auch hat Wolfgang Ullmann nach meiner Überzeugung in einem umfassenden Sinn Recht, wenn er jüngst im Freitag kritisierte, die PDS sei bisher nicht fähig und nicht bereit, ihren Platz als Partei des Demokratischen Sozialismus und eben den (einen) demokratischen Sozialismus zu definieren.Natürlich wird die PDS stets auch ein programmatisches, zum Teil auch ideologisches Angebot unterbreiten müssen. Vorrangig aber ist sie doch gefragt, demokratischen Sozialismus als realpolitischen Auftrag zu verstehen, gebunden an die vorhandenen Interessen der Menschen und praktiziert im Interesse der politischen Kultur des Landes. Die PDS wird - Ullmann verweist darauf - Glaubenskriege um die reine Lehre und rückwärtsgewandte Dogmen endgültig hinter sich lassen müssen. Sie wird leidenschaftlich darum ringen müssen, sozialistisches Denken und sozialistische Politik in den realen Auseinandersetzungen der Gesellschaft grundlegend zu erneuern. Ich glaube, dass die Gesellschaft Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gleichermaßen braucht, wenn sie demokratisch bleiben will und sozial nicht zersplittern soll.Für den Konservatismus und (Neo-)Liberalismus sorgen inzwischen nahezu alle anderen: Parteien, Unternehmerverbände, Großbanken, Welthandelsorganisation, G8-Gipfel, Europäische Zentralbank, Bundesverfassungsgericht, machtbewusste Medien ohnehin. Wer soll denn in Deutschland für eine sozialistische Korrektur von Konservatismus und Liberalismus sorgen, wenn nicht primär demokratische Sozialisten? Ist es denn keine faszinierende Aufgabe und nicht möglich, diese Faszination zu verdeutlichen, sozialistische Politik als etwas ganz und gar Gegenwärtiges zu praktizieren? Nicht nur als abstraktes Ziel. Wenn Rot-Grün die sozialen Klüfte vertieft und sich daran beteiligt, Hunderttausende durch das Hartz-Konzept auszugrenzen und zuzulassen, dass gleichzeitig Macht und Reichtum bei einigen hundert Konzernen und Banken geballt werden - da sollen nicht ganz aktuell Widerstand und Alternative angebracht und möglich sein? Wenn zwölf Jahre nach der Einheit die "Bewährungszeit" für die Ostdeutschen immer noch andauert, wenn Renten, Löhne, Zahlungen an Ärzte immer noch nicht angeglichen werden, wenn ökologische Steuerreformen energiefressende Konzerne verschonen, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr aber belasten (weil sich die Parteien der Mitte nicht mit mächtigen Unternehmen anlegen wollen), wenn es offenbar keine andere Partei wagt, die enormen Spekulationsgewinne an den internationalen Devisenbörsen prinzipiell in Frage zu stellen, wenn praktisch alle anderen (erklärtermaßen!) Gesellschaftspolitik von oben und von den Bedürfnissen der Wirtschaft her betreiben, nicht mehr von unten, an den Interessen der Menschen orientiert - da soll sozialistische Realpolitik nicht für die Gesellschaft existenziell notwendig sein und keine Chance haben?Nein, das lasse ich mir nicht einreden. Jede Schwierigkeit nehme ich zur Kenntnis - auch die Möglichkeit, dass es die PDS nicht (mehr) ist, die einer solchen Politik Stimme und Gewicht gibt. Nicht aber, dass eine solche Politik nicht zukunftsfähig und im Wortsinne notwendig ist, im Übrigen auch ermutigend und faszinierend sein kann. Die PDS muss Entscheidungen über ihr Profil und ihr Programm nachholen, die sie seit langem verschleppt. Sie geht schweren Zeiten entgegen und wird ein Höchstmaß an Veränderungswillen und -lust, intelligenter Führungskraft sowie geistiger und kultureller Öffnung aufbringen müssen, wenn sie noch eine Chance haben will. Ich bin noch immer überzeugt, dass sie die hat, wenn sie in Gera beginnt, die Machtkämpfe zwischen ihren realistisch denkenden Politikern zu beenden. Wenn sie sich nicht länger zum Nonplusultra der eigenen Politik erklärt, sondern die Wähler und vor allem die sozial Benachteiligten zum Maßstab macht und das eben auf der Grundlage eines zeitgemäßen sozialistischen Profils.André Brie ist Europaabgeordneter der PDS.
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