Was ihr wollt

Klasse und Masse Am meisten krank macht es, über die "Nationale Verzehrstudie" allzu viel nachzudenken

Der Musiker Helge Schneider hat wieder mit dem Rauchen angefangen, weil ihm "das mit dem Rauchverbot irgendwie auf den Wecker" ging. "Der Bürger", so Schneider, "wird demnächst gar nichts mehr selber machen müssen. Der wird geboren, kommt in so einen Karton, fährt durch die Gegend, wird gepflegt, gefüttert, wird geschützt vor allen Dingen." Der Kabarettist Dieter Nuhr glaubt, die Helmpflicht fürs Radfahren stünde unmittelbar bevor, obwohl ja Zufußgehen auch gefährlich sei, da gebe es auch Stürze. Soll man überhaupt noch vor die Tür gehen?

Diese Mentalität wurde nun nachdrücklich von der "Nationalen Verzehrstudie II" gestützt, die Bundesernährungsminister Seehofer in den TV-Nachrichten biomöhrenbeißend präsentierte. Bei Anne Will rühmte sich Renate Künast, die grüne Amtsvorgängerin Seehofers, diese Studie noch selbst auf den Weg gebracht zu haben, um gleich noch hervorzuheben, wie schlecht das Verzehren bei den "bildungsfernen Schichten" läuft. Irgendwie läuft alles schlecht und muss unbedingt besser geregelt werden. Und da wir schon die Globalisierung nicht abschaffen und scheinbar auch nicht regeln können (wir würden ja wollen, aber die andern angeblich nicht), müssen wir im Kleinen anfangen und das Verhalten jedes Einzelnen besser regeln. Das reicht von den Umgangsformen, dem Bildungsverhalten, den Regeln von Kultur und Unkultur bis hin zum elementaren Essen und Trinken.

Wenige Tage vor der Präsentation der "Nationalen Verzehrstudie" hatten US-Epidemiologen und Gesundheitswissenschaftler vom Albert Einstein College in New York beklagt, viele Empfehlungen zur gesunden Ernährung seien "nicht wissenschaftlich fundiert". So lange man keine Beweise dafür habe, dass etwas schädlich oder nützlich sei, bestehe der beste Ernährungsratschlag darin, "keine Ernährungsratschläge zu befolgen". Damit war eigentlich alles gesagt.

Doch dann kam Horst Seehofer und kaute uns seine Möhren vor. Was sagt nun seine Studie? Ein Kommentator fasste die Hauptthese so zusammen: "Gewichtsgegensätze sind in Deutschland in erster Linie Klassengegensätze." Die Studie behandelt in über der Hälfte ihres Umfangs unser Gewicht, unsere Körpergröße, unseren Body-Mass-Index (BMI, Gewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße), Taillen- und Hüftumfang, und unterteilt alles nach Alter, Geschlecht, Bildungsstand und Schichtzugehörigkeit. Der BMI wird zwischen 18,5 und 25 als normal bezeichnet und daraus die steile These abgeleitet, über die Hälfte der Deutschen seien übergewichtig. Andere Studien sagen, "leichtes Übergewicht" sei gesund und lebensverlängernd. Aber das zu berücksichtigen, hätte die steile These beeinträchtigt. Die Untergewichtigen wurden dagegen durch die willkürliche Absenkung des normalen BMI von 20 auf 18,5 statistisch kleingerechnet. Dabei ist seit Jahren nachgewiesen, dass sich Essstörungen und Magersucht epidemisch ausbreiten.

Ein wenig fragte die Studie Kenntnisse und Meinungen zur Ernährung ab. Genverändertes Essen wird besonders stark abgelehnt, Zigaretten, Radioaktivität, Stress im Beruf; Rückstände von Spritzmitteln und Tierarznei finden wir gefährlicher als "zu viel Essen und Trinken". Wir sind also längst nicht so dumm, wie uns Lobbyisten und Politik machen wollen. Nur was wir tatsächlich verzehren, das enthüllt die "Verzehrstudie" kaum. Es wird relativ wenig in Kantinen gegessen, es wird wenig - und vor allem immer weniger gemeinsam - zuhause gekocht und gegessen, genau der Wunsch nach Gemeinsamkeit wird aber immer größer.

An dieser Stelle könnten wir dem Kern des Problems näher kommen. Die Globalisierung zwingt uns angeblich zu mehr Mobilität, Flexibilität, ständiger Verfügbarkeit und Produktivität. Wir lassen uns prekär beschäftigen, Regelarbeitsverhältnisse und soziale Sicherheit werden mit voller politökonomischer Absicht verringert. Wir rächen uns. Viele bekommen keine Kinder, einige fangen aus Trotz mit dem Rauchen an, und die meisten essen und trinken eben, wie sie wollen. Am meisten krank macht es, darüber zu viel nachzudenken.

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