Wir sehen auf eine künstliche Welt, eine Art Niemandsland. Alles ist leer, ein paar Bretter wie auf einer Baustelle, dahinter eine breitwandig projizierte See-Landschaft, die sich in Licht und Stimmung ändert. Am Wasser blinkt eine Warnleuchte. Immerhin gibt es in diesem Godotschen Vakuum auch Menschen. Sie haben etwas aufgeschrieben, eine Art Tagebuch, jeden Monat ein paar Zeilen. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Städten, meist in Deutschland, und wollen jetzt in der Schweiz Theater spielen. Ein biss chen ist es wie beim Vorsprechen. Die Regisseure haben ihnen Fragen gestellt. Erinnern Sie sich an eine Begebenheit am 30. 11. 1998? Was ist für Sie Glück? Was ist Heimat? Ihr Lebenstraum? Wagen Sie einen Blick ins Alter? Kennen Sie einen Menschen, der Ihnen vom
om Krieg erzählen kann?Crescentia Dünsser und Otto Kukla machen gleich mit ihrer ersten Arbeit am Züricher Neumarkt klar, dass hier nun eine ganz andere Ästhetik versucht werden soll. Die beiden neuen Intendanten haben sich, nach ihrer Anfangszeit bei Peymann in Bochum und vielen Jahren in einer freien Gruppe, so lange an fremden Texten abgearbeitet, dass sie jetzt Lust auf Eigenes haben. Natürlich, und das ist der Unterschied zu vielen Ensemble-Projekten der achtziger Jahre, geht es nicht darum, den eigenen Bauchnabel zu thematisieren. Das Motto ist: beobachten und beschreiben, nicht lamentieren.Die acht Schauspieler erzählen also: vom ersten Frost und von der Berliner Mauer, von einem Besuch beim Zahnarzt, einem Fahrradkauf, von ihren Kindern, der Liebe zu einer Landschaft und von der unaufgeräumten Wohnung. In der Aufzählung mag das beliebig klingen. Auf der Bühne aber wird im Laufe des Abends klar, dass es unter der offiziellen Ebene der laufenden Ereignisse, neben Sparmaßnahmen und Rentendebatte etwas gibt, das für den Einzelnen wichtiger ist als der mediale Nachhall der Weltgeschichte: der morgendliche Geruch von Kaffee zum Beispiel, das Hören eines bestimmten Dialekts, der Erinnerungen anstößt, der Blick in die Berge, das Schreien Karussel fahrender Kinder - solche Details definieren ein Selbst-Gefühl. Es entsteht, ganz anders als in den effektsüchtigen Talkshows, eine schöne Konzentration: acht Personen sind ihr eigener Autor, sie geben etwas von sich preis und machen sich auch schutzlos.Walk About heißt der Abend, Herumgehen, Herumstreifen, im eigenen Leben flanieren. Aber: wer von sich selbst handeln will, braucht klare Formen, Zeichen, Codes. Als sie noch mit ihrem Zelttheater unterwegs waren, haben Dünsser und Kukla "groß" gespielt, weil die Räume groß waren, ein in seinen Gesten und der Sprache stark stilisiertes Volkstheater. Je intimer die Räume wurden (am Neumarkt spielt man in einem alten Zunftsaal), desto mehr eigene Psychologie durften die Darsteller entfalten; die Stilisierung kam von außen.Die Bühne, die Otto Kukla nun für Zürich entworfen hat, ist Wartesaal, Dachboden, Umkleide und Baustelle; mal senkt sich eine Jalousie, auf die ein Wecker projiziert wird, mal kreisen Paare und Passanten auf einer Drehbühne, in wechselnden Konstellationen, wie wenn man aus einem Fenster eine mäßig belebte Straße betrachtet. Über der Szene hängen Monitore, die die Themen vorgeben - eine kühle, technische Welt, gegen die die Figuren mit einem alltagsnahen Understatement agieren.Es wird fürwahr Persönliches verhandelt. Der Klang von Sprache, von fremder Sprache, von Dialekt; das Gefühl, wenn man seine Hände in den Schnee legt; die Angst vor dem Altersheim; die Sorge, dass die Speckringe am Bauch dicker werden ... Was ist Glück? Es ist, zum Beispiel, eine Melodie, die an die Kindheit erinnert, ein Lied, das man vor sich hinsummen kann. Die eine Figur beschreibt ein Kind in der Silvesternacht, die andere einen Amokläufer, der mit der Axt um sich schlägt. Der eine träumt von einer Putzhilfe, eine andere knirscht nachts mit den Zähnen. Nichts Spektakuläres also. Aber diese Bescheidenheit erzeugt eine Spannung, die den ganzen Abend lang trägt - na, nicht ganz, man war dann doch etwas zu selbstverliebt und hat sich zu Kürzungen nicht durchringen können. Den dramaturgischen Knoten rechtzeitig zumachen: das war schon immer das Problem bei solchen Gemeinschaftsarbeiten.Dennoch: dieses formal avancierte Alltagskaleidoskop erinnert den Zuschauer daran, warum er überhaupt Theater braucht. Er ist auf einmal mit sich selbst konfrontiert, mit den eigenen Banalitäten, ohne sichere Stückvorlage. Und irgendwann interessiert man sich dann auch dafür, warum man nachts mit den Zähnen knirscht.
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