Was Russland mit seiner Invasion der Ukraine geopolitisch erreichen will, ist klar: Es geht um das Zurückdrängen des westlichen Einflusses in Osteuropa und die Integration der Ukraine in die von Wladimir Putin postulierte „russische Welt“. In der Kreml-Version war Moskau durch die Aggressivität der Nato zum Eingreifen gezwungen. Ob die Ukrainer überhaupt in eine irgendwie geartete autoritäre „russische Welt“ aufgenommen werden oder lieber Teil des westlichen Systems sein wollen, spielt in dem Kalkül offenbar keine Rolle.
Was das große Ziel, bezogen auf russische Forderungen an die Ukraine bedeutet, bleibt in den Verlautbarungen Putins nebulös. Verwendet werden vor allem auslegungsbedürftige Formeln wie die von der „D
r „Demilitarisierung“ oder „Entnazifizierung“ der Ukraine, jedoch ohne zu erklären, was das in der Umsetzung genau heißt.Westliche Experten gehen davon aus, dass zu Beginn der Invasion die Auswechslung der Kiewer Regierung zu den Zielen gehörte und viele Indizien beim anfänglichen Vorstoß auf Kiew sprechen dafür. Demgegenüber widerspricht Russland der Darstellung, das sei irgendwann geplant gewesen. Da strategische Erfordernisse den Rückzug der Russen aus dem Raum Kiew erforderlich machten, bleibt es unklar, ob das Ziel „regime change“ noch besteht, aufgegeben wurde oder nie vorhanden war. Der Vorgang zeigt aber, dass Moskau notfalls ein Ziel fallen lassen kann, wenn es sich nur noch schwer erreichen lässt. Und wenn man es nie offiziell verkündet hat.Bis nach TransnistrienÄhnlich verhält es sich bei den Eroberungen der russischen Armee. Nur durch eine Äußerung des russischen Militärbereichskommandeurs Rustan Minnekajew vom April ist bekannt, was Russland bei einem Kampf bis zum militärischen Sieg anstrebt: eine Besetzung der gesamten Ost- und Südukraine. Es bestünde damit eine Landverbindung sowohl zwischen dem Donbass und der Krim als auch zwischen der Krim und russischen Truppen in Transnistrien. Was von der Ukraine bliebe, wäre von wichtigen Industriezentren und dem Zugang zum Schwarzen Meer abgeschnitten. Ein solches Szenario würde für Russland mit gewaltigen Verlusten an Menschen und Material verbunden sein.Insofern stellt sich die Frage, inwieweit Moskau bereit wäre, das zu vermeiden – auf Teile seiner Eroberungspläne zu verzichten, um einen Verhandlungsfrieden zu schließen. Was wären Minimalziele? Offiziell ist davon nichts zu hören, es gibt aber Hinweise darauf, welche Gebietsgewinne dem Kreml als unverzichtbar gelten. So bezeichnet Sergej Rudskoy vom russischen Generalstab die „Befreiung des Donbass“ als Hauptziel der Invasion. Schließlich sind die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk als souverän anerkannt. Vizeaußenminister Andrej Rudenko sagte gegenüber der Agentur Interfax, Russland bestehe darauf, dass die Ukraine den Status der Krim und der „Volksrepubliken“ ebenfalls anerkenne.Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kreml bei Verhandlungen den Donbass der Ukraine überlassen würde. Er benötigt schon aus innenpolitischen Gründen einen Frieden, der sich als „Sieg“ deuten lässt. Ein Verzicht auf Ziele, die klar definiert worden sind, erscheint kaum möglich. Doch wie sieht die Lage darüber hinaus aus? Die russischen Vertreter sprachen etwa bei den derzeit unterbrochenen Verhandlungen mit Kiew davon, dass man sich kein „ukrainisches Land“ aneignen wolle. Auch Rudenko erwähnte ausdrücklich nur den Donbass und die Krim.Moskau ist bewusst, dass es in anderen Regionen praktisch kaum jemanden gibt, der wirklich einen Anschluss an Russland wünscht. Schon vor dem Feldzug haben namhafte außenpolitische Experten in Moskau wie Iwan Timofejew vom außenpolitischen Diskussionsclub Waldaj oder Wasili Kaschin von der Higher School of Economics vor einer Besetzung dieser Teile der Ukraine gewarnt, allein schon wegen der absehbaren Kosten und Verluste an Soldaten. Wie recht sie damit haben, zeigt die Situation in der besetzten Region Cherson, in der ein ukrainischer Untergrund Anschläge auf Kollaborateure und russische Stellungen verübt.Ungeachtet dessen arbeiten die Besatzer intensiv daran, außerhalb des Donbass in eroberten Gebieten ebenfalls russische Strukturen zu installieren. Der österreichische Russlandexperte Gerhard Mangott glaubt, dass ein Vertragsfrieden in Moskau nur Zustimmung finden könne, wenn außer der Krim und dem Donbass auch eine Landbrücke zwischen beiden Territorien Russland zufällt.Bei all dem hat die aktuelle Kriegslage natürlich einen Einfluss auf das Verhalten Russlands. Denn was der Kreml sich mit Gewalt und kalkulierbarem Risiko holen kann, das holt er sich auch – so zeigen es die Ereignisse seit Ende Februar. Anders sähe das bei einem längerfristigen militärischen Patt aus. In jedem Fall gilt: Ein wie auch immer gearteter Verhandlungsfrieden ist langfristig die einzige Möglichkeit, das Sterben in der Ukraine auf absehbare Zeit zu stoppen.