Europa steht weiter vor der Herausforderung, wie auf die Eruptionen aus Zorn und Gewalt in Teilen der muslimischen Welt infolge der dänischen Mohammed-Karikaturen angemessen reagiert werden kann. Mit der Diskussion über Presse- und Meinungsfreiheit und deren Grenzen vergewissert sich Europa seiner eigenen Grundwerte. Einmal mehr scheint dieser Streit die These eines "clash of civilizations" zwischen muslimischer und christlicher Welt zu bestätigen.
Die Schweizer Publizistin Gret Haller wendet nun den Blick gen Westen. In ihrem Buch Politik der Götter untersucht sie kulturelle Spezifika im Selbstverständnis der USA, die dazu führen, Angehörigen anderer Kulturen weniger Würde zu zumessen. Ursprünge dafür verortet sie in der frühen US-amerikanischen Geschichte. Doch erst seit dem Ende des Kalten Krieges habe dieser wirklich an Bedeutung gewonnen. Eine Entwicklung, die - laut Haller - weit stärker als bisher ins europäische Bewusstsein gelangen sollte.
Ein Indiz für diese Haltung ist der den USA vielfach attestierte, aber auch von den USA selbst seit den 1990iger Jahren zunehmend offen formulierte Unilateralismus. Zu dieser Strategie gehören die US-amerikanische Verweigerung multilateraler Regelungsversuche auf internationaler Ebene wie des Kyoto-Protokolls und die Einrichtung des internationalen Strafgerichtshofs genauso wie der Alleingang in den Irak-Krieg, der vor den Augen der Welt einen offenen Dissens im westlichen Bündnis provozierte - Eckdaten einer beunruhigenden Entwicklung, die die Hoffnungen auf ein Global Governance, in der die UN ein bedeutsame Rolle spielt, wie naive Träumerei erscheinen lassen.
Haller zeigt die Unterschiede der europäischen (insbesondere französischen) und der amerikanischen Entwicklung im republikanischen Selbstverständnis auf und leitet daraus die heutigen Unterschiede in der politischen Kultur ab. Das diffuse Unbehagen, das EuropäerInnen gegenüber dem außenpolitischen Agieren und den Alleingängen der USA empfinden, bekommt durch diese historisch und rechtswissenschaftlich fundierte Betrachtung ein Fundament. Die Darstellung besticht vor allem, weil man spürt, dass hier jemand aus einem reichen, juristischen wie politischen Erfahrungsschatz schöpft. Gret Haller war unter anderem Präsidentin des Schweizer Parlaments und vertrat ihr Land als Botschafterin beim Europarat.
Sie argumentiert, dass sich geschichtlich in den USA eine andere Vorstellung von der Rolle des Staates, den Funktionsmechanismen des Gemeinwesens und dem Stellenwert der Religion entwickelt hat. Die europäischen Nationen begründeten sich staatspolitisch, die USA religiös und moralisch. Während sich in Europa mit der Res Publica die Vorstellung einer Verbindung von Gleichheit und Freiheit als Grundlage des Staates herausbildete, stehen in den USA Freiheit und Gleichheit in einem anderen Verhältnis als in Europa. So sei "der US-amerikanische Staatsminimalismus .... aus dem Zusammenwirken wirtschaftlicher und religiöser Faktoren [entstanden], die .... im Gegensatz zu Europa zu einer Verbindung der Freiheit mit Elementen der Ungleichheit führten".
Das Verständnis von sozialer Verantwortung und der Rolle des Staates im wirtschaftlichen Handeln sei demzufolge unterschiedlich. In dem durch Protestantismus und Calvinismus geprägten Gemeinwesen diene der Staat dazu, ein freies Entfalten des Individuums im wirtschaftlichen Handeln zu erlauben und damit auch die Ungleichheit zu schützen, die sich in den Möglichkeiten der einzelnen Menschen zum Erwerb von Eigentum ergeben. Anders als in Europa ist der Gedanke eines sozialen Ausgleichs zwischen Arm und Reich durch den Staat in den USA tendenziell tabu.
Diese andere Konzeption, die Freiheit nicht grundsätzlich mit Gleichheit verbindet, führe auch in der internationalen Politik zu verschiedenen Vorgehensweisen. In Europa habe sich seit dem Westfälischen Frieden über die weiteren europäischen Kriegsepochen nach dem 2. Weltkrieg die Vorstellung einer teilbaren Staatssouveränität herausgebildet. Dagegen "kann sich die Mehrheit der US-Amerikaner nicht vorstellen, dass verschiedene Staaten in gemeinsamer Absprache oder aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages gemeinsam ein Problem angehen, ohne dass einer der Staaten dabei die Führung übernimmt".
Diese Tendenz der USA zum politischen Einzelkämpfertum erklärt sich auch durch den hohen Stellenwert der Religion, der zur Selbstwahrnehmung als auserwählte Nation führt. Die Bedeutung von Religion äußert sich zudem in dem engen Zusammenhang von Politik, Recht und Moral. In der amerikanischen Außenpolitik ist unter der gegenwärtigen Administration eine systematische Moralisierung zu beobachten. Das Selbstverständnis als moralisches Weltgewissen illustriert der Ausspruch von Condoleezza Rice nach kontroversen Reaktionen aus Europa um den Irakkrieg: Washington werde "Frankreich bestrafen, Deutschland ignorieren und Russland verzeihen". In Europa hingegen seien, so Haller, diese drei Bereiche voneinander getrennt. Nur so könnten aber Menschenrechte wirklich als universales Rechtsgut verstanden werden.
Von 1996-2000 war Gret Haller Ombudsfrau der OSZE für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina - eine prägende Erfahrung, auf die sie sich immer wieder in der Bewertung internationaler Politik bezieht und die sich auch in ihrem 2004 veröffentlichten Buch Die Grenzen der Solidarität widerspiegelt. Vor allem aber ist sie eine leidenschaftliche Europäerin, die gegenüber den Verfechtern neoliberaler Modelle beherzt für staatliche Regulierung des Marktes und die Sicherung des europäischen Sozialstaatsgedankens plädiert - eben gerade unter den Bedingungen der Globalisierung.
Hallers rechts- und kulturhistorische Ausführungen und ihre kursiv gesetzten Einschübe als Reisende auf den Wegstrecken Europas regen zum Nachdenken über die zukünftige Rolle des alten Kontinents an. Inwieweit er tatsächlich in der Lage sein wird, sein historisches Potential als Friedensgarant gegen Fundamentalismen generell mit seinen Vorstellungen von Gleichheit zu nutzen und zugleich auch noch den von Haller formulierten ehrgeizigen Anforderungen an seine internationale Rolle als Anwalt eines fairen Multilateralismus gerecht zu werden, muss sich allerdings noch zeigen. Angesichts der rechtsfreien Räume auch in Europa, wie sie die CIA-Affäre um entführte EU-Bürger muslimischer Herkunft offenbarte, angesichts des Fehlens einer offensiven Einwanderungspolitik wie auch einer erfolgreichen Integration von Minderheiten, des stagnierenden Verfassungsprozesses und der fehlenden gemeinsamen außenpolitischen Linie kann man sich vorstellen, wie schwer diese Aufgabe zu schultern sein wird, selbst wenn die Götter in Europa ihren Ort bereits jenseits der Politik gefunden haben.
Gret Haller: Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus. Aufbau, Berlin 2005, 224 S., 18,90 EUR
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