Von „Nazis“ und „flachgewichsten Lesern“ war letztens viel zu lesen, von Mely Kiyak, Thilo Sarrazin und dem rechten Blog Politically Incorrect. Dachte man, die Debatte um den Ex-Finanzsenator und sein Buch Deutschland schafft sich ab sei beendet, hat sich das Gegenteil erwiesen. Entrüstung schlug der deutsch-kurdischen Publizistin Kiyak entgegen, als sie Sarrazin in einem Zeitungsbeitrag eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ genannt hatte. Springer-Blätter verlangten eine Entschuldigung, die die Publizistin abgab, während Politically Incorrect weiter diffamierte. Es gab eine große Veranstaltung „wider die Hetzkampagne“ gegen Kiyak. Der Freitag berichtete in der Ausgabe vom 14. Juni.
Die Auseinandersetzung ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die 2010 mit Erscheinen von Deutschland schafft sich ab begann. An der Erregung, mit der diskutiert wird, hat sich nichts geändert, am Thema allerdings schon. Die sozialen und kulturellen Probleme von primär muslimischen Migranten sind nicht mehr der Hauptgegenstand. Stattdessen verstärkt der Eklat den Eindruck, dass es sich bei der aktuellen Debatte eher um einen Diskurs von Journalisten und Bloggern handelt, der sich um sich selbst dreht.
Integration durch Partizipation
Die aufgeheizte Stimmung weist Parallelen zur Zeit der Studentenproteste auf. Auch damals gab es eine Mehrheitsgesellschaft, die vor allem via „Springer-Presse“ aggressiv gegen die Studenten vorging, die wiederum den Muff der Adenauer-Ära zunehmend ablehnten und alternative Lebensformen suchten. Der Schah-Besuch und die Ermordung Benno Ohnesorgs dynamisierten einen Konflikt, um deren Lösung auch innerhalb dieser Protestgeneration heftig gestritten wurde. Rudi Dutschkes 1967 ausgegebene Parole vom „Langen Marsch durch die Institutionen“ kann man als Erkenntnis begreifen, dass eine Veränderung der Gesellschaft nicht durch symbolhafte Aktionen oder terroristische Anschläge, sondern nur in langer Arbeit zu erreichen sei. Durch Partizipation in Parteien, Gewerkschaften, Betrieben – vor allem aber in staatlichen Institutionen wie Universität und Schule.
Zu diesem Marsch kann man auch den aufstiegswilligen Migranten von heute nur raten, oder anders gesagt: Wer unzufrieden mit der herrschenden Integrationspolitik ist, sollte Dutschkes Konzept einer Mitgestaltung der Gesellschaft durch Teilnahme adaptieren. Noch konkreter: Junge Migranten sollten einfach noch zahlreicher Abitur machen, studieren und Karrieren anstreben; der aktuelle Integrationsbericht der Bundesregierung wartet hier mit ermutigenden Zahlen auf.
Kultur der Gelassenheit
Die in der Öffentlichkeit stehenden Migranten wie die Journalistin Linda Zervakis, der Soziologe Armin Nassehi oder der Unternehmer Vural Öger haben diesen Marsch bereits angetreten und sind in dieser Hinsicht Vorbilder. Es läge an ihnen, ihre Vorbildfunktion noch offensiver wahrzunehmen. Und für Publizisten wie Kiyak wäre es wichtig zu erkennen, dass ihre Gegner doch nur darauf lauern, dass sie aggressiv zurückschlagen, frei nach dem Motto: Jetzt zeigt sie ihr wahres Gesicht! Nun ist das aggressive Auftreten, das man bei vielen Migranten hierzulande zu erkennen glaubt, ja nur die Kehrseite des positiven Stereotyps, das von der Lebensart der Menschen in ihren Herkunftsländern zirkuliert. Warum es nicht aufgreifen? Warum nicht eine Kultur der souveränen und freundlichen Gelassenheit hegen und pflegen? Denn darauf wäre nicht nur ein Sarrazin wohl wirklich nicht gefasst.
Kommentare 7
Der Artikel erinnert mich irgendwie an verzweifelte Eltern, die ihre verzogenen Gören anflehen, sie mögen mal das Zimmer aufräumen, für die Schule lernen und bitte schön endlich die Füße vom Esstisch nehmen - eigentlich Selbstverständlichkeiten: "Und wenn die Oma heute kommt, gib ihr vielleicht einen Kuss - da freut sie sich bestimmt!". Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Wer mit offenen Augen durch Stadt & Land reist und sich den Regierungsbericht genau anschaut, wird ehrlich gesagt ziemlich schnell aller Hoffnungen für die Zukunft dieses Hightech-Standortes beraubt. Daran ändern auch die oben zitierten Vorbilder nicht viel - eine Journalistin, ein Soziologe und ein Reiseunternehmer, die allesamt vom Wohlstand in diesem Land profitieren. Dieser Wohlstand wird in erster Linie geschaffen vom export-orientierten industriellen Mittelstand, vom Maschinen- und Anlagenbau, von der Großindustrie in der Chemie/Pharma/Autobranche, von technisch und handwerklich begabten Menschen, die ihre Begeisterung, ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre Fähigkeiten von Generation zu Generation an ihre Kinder weitergeben.
Man sollte sich in Hinsicht auf diesen Wohlstand schon die Frage stellen: Was passiert denn mit diesem Mittelstand, wenn demnächst die Mehrheit in Deutschland einen Migrationshintergrund hat? Was passiert denn mit der unschätzbar wertvollen Marke "Made In Germany", wenn dann fast ein Drittel (!) dieser Generation keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben? Diese Fragen geben wirklich keinen Grund zu Gelassenheit, da macht sich schon nackte Panik breit.
Mich würde wirklich mal eine Liste von existierenden mittelständischen Industrie-Unternehmen mit weltweitem Export und Weltmarktführern interessieren, gegründet von Migranten in Deutschland, aufgeschlüsselt nach Herkunft.
Ansonsten würde ich mich über Tipps freuen, wo man rosarote Brillen kaufen kann.
@ Querdenker
Ich gebe Ihnen weitgehend recht. Zu der Aussage "Was passiert denn mit der unschätzbar wertvollen Marke "Made In Germany", wenn dann fast ein Drittel (!) dieser Generation keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben?" kann ich nur anmerken - dann verbergen sich hinter dieser Marke chinesische oder indische Unternehmer; welche allerdings nicht hier aufgewachsen sind und dennoch (oder gerade) den Leistungswillen in sich tragen.
Oha da habe ich als "Migrantin" jetzt ja echt den Tornister vollgepackt bekommen, "so'n Sch...".
Manchmal frage ich mich wirklich, ob solche Tintenmeere von Leuten stammen, die auf dem Mond von Gut & Edel leben, oder - siehe 1. Kommi - die rosarote Brille in Stärke -8 Dioptrin am Kopf getackert tragen.
Hey, Leute, es ist doch ganz einfach! Es gibt solche und seolche, bei Migrantens unterm Sofa genau wie bei Hempels hinterm Schrank ("Gelsenkirchner Barock! Eiche rrrrrrrrustikal!"). es gibt stinkfaule Migranten udn doofe Deutsche, und es gibt intelligente Migranten und kluge Deutsche. Wozu so ein Fass aufmachen?
Übrigens: VW baut den Golf / Jetta in Mexiko, den Kombi sogar ausschliesslich, den Touareg, diese Mordskarre für Profilneurotiker ohne Waldnutzung, in der Slowakei, den Polo in Spanien, usw usf. - geniales "Made in Germany", Kollege.
.. und es gibt Bloggerinnen, die "Kommentieren" klicken vorm Korrekturlesen - Zerknirschung!
@Nietzsche 2011
als sprach Zarathustra: man nehme Tata (Indien) - die bauen Autos, die fahren geradeaus, federn, bremsen und fallen in der Kurve nicht um. Nebenbei ist Tata mittlerweile ein internationaler Konzern mit ichweissnichtwievielen Millionen von Tochterunternehmen. Kann sein, Kollege Querdenker hat sich bei denen eine Wohnung makeln lassen... Ohne es zu wissen... Shoking!
Sie leben noch in der alten Bonner Republik, und müssen noch in der Berliner Republik ankommen, um später vielleicht in der Welt des globalen Finanzmarktkapitalismus leben zu können.
Der Wohlstand in Deutschland wird nicht durch den exportorientierten deutschen Mittelstand geschaffen, sondern durch arbeitende Menschen in mehr als hundertfünfzig Ländern in der Güterproduktion. Wohlstand ist vor allem Güterreichtum. Durch höhere Produktivität kann man im internationalen Handel Vorteile bei der Bildung von Anlagenkapital und Humankapital erhalten. Am Ende des Tages nutzt der Export wenig, solange man nicht importieren kann. Man muss den Fokus also auf die globalen Güterströme legen und sich überlegen, welche Rolle man spielen will.
Der deutsche Mittelstand ist überhaupt nicht durch die Migranten bedroht, sondern durch die mangelhafte Kapitalmarktintegration und die Unfähigkeit ausreichend Eigenkapital zu bilden. In der BRD gibt es einen bankzentrierten Kapitalmarkt - Schwächen in der Bankenregulierung können wie man heute sieht zu einer existenzbedrohenden Kreditklemme für den deutschen Mittelstand führen.
Der deutsche Mittelstand spielt eine herausragende Rolle für die Beschäftigung und damit auch für Steueraufkommen aus der Lohnsumme in der Volkswirtschaft, und damit für die Atersversorgung. In Zeiten zunehmender Mobilität von Kapital steht die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Mittelstandes durch eben diese Kapitalmobilität auf dem Spiel. Das Scheitern der europäischen Integration wirft einen Schatten auf die mittelständischen Perspektiven trotz gutgefüllter Auftragsbücher, weil kein grosser Binnenmarkt mit einer freundlichen politischen Administration geschaffen werden konnte. Die starke Abhängigkeit von den Exportmärkten in Asien und den USA wird mit dem Zufluss von Investitionskapital in die Exportmärkte langfristig ungemütlich, und eine politische Patronage ist durch lateinamerikanische, asiatische und us-amerikanische Administrationen nicht zu erwarten.
Die Schwierigkeiten des deutschen Mittelstandes sind durch den Weltmarkt und der Marginalisierung auf dem Kapitalmärkten geschuldet, die Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit verhindern.
Mit der Bevölkerungszunahme und dem Leistungswillen bei den Einwanderern und deren Nachkommen hat das gar nichts zu tun. Technologiezunahme, Migration und Bevölkerungswachstum fördern sich gegenseitig. Das ist die Erfahrung des römischen Reiches, dass in ihrer Gründerzeit mit Hilfe von Einwanderer aus der Umgebung etruskische Technologie adaptierte. Das ist in der Neuzeit die Erfahrung Kanadas, der USA, Australien und Chinas (Binnenmigration).
Nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Form der Verschiebung der Produktionsmöglichkeitenkurve nach aussen hat vor allem mit neuer Technologie zu tun. Mit Leistungswillen auf der Humankapitalseite und mehr billigen Kapital kann man nur in Grenzen das Güterwachstum vorantreiben.
Leistungswillen bei den Humankapitalträgern führt auch nicht zu proportionalen Wachstum der Lohn/Steuersumme. Beispiele für Länder mit hohen akademischen Leistungswillen und düsteren Arbeitsmarktaussichten für junge Menschen sind die USA, Japan und Südkorea. Dabei macht es keinen grossen Unterschied, ob man mittels schuldenfinanzierter Studienfinanzierung (USA) oder autoritäres social engineering (Korea, Japan) für die Leistungsmotivation nutzt.
Wesentlich entscheidender für die ökonomische Zukunft des Landes sind Weichenstellungen bei den Institutionen: d.h. Rechtssystem, Finanzinstitutionen, Bildungsinstitutionen und Medien.
Wettbewerbsfähigkeit wird in Deutschland vor allem über Prozessinnovation hergestellt. Mit etwa 34 Wagniskapitalgebern und einem Fokus auf IT, Biotechnologie und Clean Tech wird man ein Jobwunder oder technologiegetriebendes Wachstum nicht schaffen. Diese Investitionsfelder sind wissensintensiv und forschungsintensiv mit einem geringen Steuerertrag für die Allgemeinheit bei der Einkommenssteuer. Die Wettbewerbsfähigkeit in diesen Zukunftsfeldern lässt sich nur mit anderen Bildungsinstitutionen halten. Auf grosse Kapitalmengen kommt es da weniger an: Labore sind preiswerter als Maschinen und Fabrikhallen. Für die Arbeit an marktreifen neuen Technologien braucht man Finanzinstituionen Business Angel, Wagniskapitalgeber - seien sie staatlich oder privat refinanziert.
In der Migrations- und Integrationspolitik hat es schon immer in der BRD einen Reformstau gegeben, der früher mit dem semantischen Import Multikulturalismus und heutzutage mit Leitkultur & Grundrechtspatriotismus kaschiert wird. Man kann es auch Ideologie des Hände-in-den-Schoss-legens nennen. Ein Marsch durch die Institutionen mit Migranten, dass zum Ende dieser geistigen Einstellung führt ist eigentlich nur begrüssenswert.
Auf den globalen Wettbewerb sind unsere Bildungsinstitutionen und die Ausbildungssysteme schlecht vorbereitet. Es wird nicht konsequent Ineffizienz und Informationslücken im globalen Handel ausgenutzt, sonst hätte man längst internationale Schulen mit binationalen Abschlüssen für die wichtigsten Staatens BRICS und CIVETS aufgestellt, um geeignete Einwanderer-Communities an die ökonomische Front zu verlagern. Es existieren praktisch keine gutausgestatteten Marktforschungs-, Technologie und Wirtschaftsforschungsinstitute für die BRICS und CIVETS Märkte mit muttersprachlichen Einwanderern. Typischerweise lassen sich ein bis zwei Fertigungsstufen in der produktivsten Wirtschaftszweigen in Deutschland ansiedeln. Es gibt keine kapitalstarken Finanzinstitutionen oder staatliche Programme, um mit Hilfe der Zuwanderer Zulieferindustrien in den Zielmärkten aufzubauen.
Bei der Entscheidungsfindung werden sehr viele Zuwanderer einfach ausgeschlossen. Das geht so weit, dass man bereit ist mit Betreuungsgeld, diese Menschen und Frauen zu bezahlen, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken. Das alles geschieht, obwohl man weiss, dass Investitionen in die frühkindliche Erziehung einen weit höheren Ertrag aufweist als spätere Arbeitsmarkteingliederungsmassnahmen.
Die Gründungsquote und die Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten in einzelnen Wirtschaftssektoren hat gar nichts mit dem Herkunftsland zu tun. Weltmarktführer wird man mit Technologie und Prozessen. Für beides braucht man Kapital und dieses Kapital wird vom bankzentrierten Finanzsystem in Deutschland nicht geliefert. Die Alternative ist der Staat wie es Singapur, Japan, Korea und China machen. Der Staat kann aber solange nicht in Wettbewerbsfähigkeit und Technologie investieren, solange er auf Steuern verzichtet.
wirklich - trotz Ausführlichkeit - einleuchtende ökonomische Kontextualisierung der Integrationsfrage. Danke für die Anregungen.
Leider kommt der Bezug zum Artikel etwas zu kurz.