Was so alles geschieht

Berechneter Weltuntergang Paul Virilio hat eine Kunstausstellung zu technischen Katastrophen zusammengestellt

Unter Europas Kulturkritikern spielt Paul Virilio, der Philosoph oder, wie er sich selbst nennt : »dromologe«, also Geschwindigkeitsforscher, seit langem die Rolle der Kassandra. In der Pariser Fondation Cartier ist seit kurzem eine Abfolge von Katastrophenbildern zu besichtigen, die uns klarmachen, dass technischer Fortschritt Hand in Hand geht mit Absturz und Untergang. Unter dem farblosen Titel Ce qui arrive (Was geschieht) hat der Philosoph der rasenden Überstürzung alle nur erdenklichen Unglücksfälle in Bild, Video oder Film zusammengestellt. Vulkanausbrüche sind noch das beiläufigste Ereignis, weil von der Natur und damit technologisch unprovoziert entstanden. Zugunglücke vom Typ Eschede, Explosionen einer Weltraumkapsel, alles, was Menschenwerk ist und der Zersprengung anheim gegeben wird, bewahrheitet das Losungswort der Ausstellung, wonach einzig der Zufall des Geschehens vor der Vernichtung bewahrt.

Das äußert sich gleich nach dem ersten Schritt über die Schwelle. Lebbeus Woods hat sich da eine beklemmende Demonstration einer Strukturzerstörung ausgedacht. Hohe schmale Aluminiumrohre führt er in übermannshohen Büscheln zusammen, als hätte er ein Ährenfeld angesät. Die metallenen Halme bieten sich geknickt oder zerspellt unseren Augen dar. Es soll vorgeführt werden, wie es ist, wenn die Decke eines zehnstöckigen Museums zusammenkracht. Dann entsteht ein solches unüberschaubares Stangengewirr, das wie ein metallischer Pfeilregen den Ausstellungsbesucher aufspießt. Flucht in den danebenliegenden hohen Raum bringt mitnichten Rettung. Dort baumelt Nancy Rubins »Airplane Parts« vor Augen; ein fünf Tonnen schweres Flugzeugwrack, das im Begriff steht, auf dem Boden zu zerschellen. Katastrophen, das ist die erste Lehre der Ausstellung, werfen Formen samt ihren physikalischen Gesetzen über den Haufen. Sie sind Normzersprenger, ob sich das nun um einen Eisenbahnzug in Eschede oder den lavaspuckenden Ätna handelt.

Virilio ist besessen von der Schreckensvorstellung, dass unsere stählerne Welt mit allen Ereignissen, die sie zwangsläufig produziert, ihre Vernichtung einprogrammiert hat. Angetrieben wird sie dabei von der Sucht nach rasender Geschwindigkeit, von der sie nicht genug bekommen hat. Der Mensch, so sagt er, hat sich der Anti-Gemächlichkeit verschworen; er ist dem unbremsbaren Rasen verfallen, weil er der unaufhaltsamen Explosion der Lebensumstände nicht nur nicht ausweichen kann, sondern weil er sich ihr mit Wollust ergibt.

Die Bestätigung der unentrinnbaren Höllenvisionen, vor der jede Rettung ausgeschlossen ist, liefert natürlich der 11. September 2001. Hier jedoch wird auch klar, dass über die bloße Dokumentation der katastrophalen Wirklichkeit die Aussagen nicht hinausgehen können. Dieser Katalog des Scheiterns wendet sich in erster Linie an die Erkenntnisfähigkeit des prüfenden Geistes. Dass in der Kunst selbst als immer neu motivierbarem Antrieb zur Form wortwörtlich etwas Aufbauendes steckt, dass somit in der Katastrophe etwas profund Menschliches sich Bahn bricht, darüber schweigt sich die Ausstellung aus. Gezeigt wird der Schrecken in der Psyche des Betrachters. Auch der von Virilio sicher zu Recht angeklagte Geschwindigkeitsrausch der Epoche verdiente eine detailliertere Prüfung.

Fondation Cartier, 261, Boulevard Raspail, Paris, noch bis 30. März. Katalog 45 EUR

www.fondation.cartier.fr

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