Was von Kabul bleibt

Journalismus Wie erfahren wir etwas über die Zustände in Afghanistan, wenn alle Reporter:innen das Land verlassen haben?
Ausgabe 34/2021

Auf dem Bild sind Menschen und ein Flugzeug zu sehen. Im Hintergrund eine Rollbahn, eine schroffe Bergkulisse. All das kennt man: aus der Tourismusbranche, als Motto für Trips um den Globus, als stolzen Hinweis darauf, dass das Flugzeug dich überall hinbringt, in einer globalisierten Welt – wenn du möchtest, Zeit findest und dir das Ticket gönnst.

Doch über einem der Gipfel in der Ferne steht eine schwarze Rauchwolke. Die Menschen um das Flugzeug wirken nicht wie Tourist:innen: Viel zu dicht gedrängt stehen sie, sind nicht reisetauglich gekleidet, es fehlt Gepäck, es fehlen Frauen. Und was machen sie auf dem Flugzeugdach, auf den Flügeln, wieso umklammern sie die Räder?

Die Bilder aus Kabul wiederholen sich, denn die Krise am Flughafen dauert an. Seit über einer Woche drängen sich Afghan:innen aus Angst vor den Taliban um das Symbol, das ihnen Rettung verspricht, die Flugzeuge, die sie irgendwo hinbringen sollen, nicht aus Neugier auf andere Kulturen, die sie erkunden wollen, sondern aus Furcht um ihr Leben.

„Viele Menschen harren am Flughafen aus, die der Herrschaft der Taliban entfliehen wollen“, heißt es am Sonntag in einer heute-Sendung zu ähnlichen Bildern, und weiter: „Unklar ist, wer wirklich die Berechtigung dafür hat.“ Die Berechtigung, aus einer sich abzeichnenden Diktatur zu fliehen? Muss man diese Berechtigung tatsächlich erwerben – müsste sie nicht jeder, jede haben? Die Flughafenbilder aus Kabul, flankiert mit Aufnahmen von angeblich aus der hoch oben fliegenden Maschine fallenden Menschen, die sehr früh und ohne Bestätigung ihres Inhalts gezeigt wurden, evozieren nicht nur durch die Funktion der sichtbaren Elemente (Flugzeug, ausreisewillige Menschen) eine symbolische Bedeutungsumkehr: Sie stehen auch für das Problem, das bleibt, wenn alle Menschen auf den Bildern es tatsächlich in einen Flieger schaffen. Denn selbst wenn sämtliche Journalist:innen, Mitarbeiter:innen, Aktivist:innen ausgeflogen werden, wenn sie Visa, Asyl, Schutz irgendwo in einer sichereren Region bekommen, bleiben Menschen zurück. Und deren Schicksal wird nicht mehr von Reporter:innen beobachtet und (mit)geteilt: Je mehr aus dem Land gebracht werden, desto weniger weiß man über die Verbleibenden. Die Bilder, die soeben ikonisch geworden sind, verschwinden, weil die Fotograf:innen und Kameraleute verschwinden müssen, schon jetzt kommt im Bilder-Feed der Agenturen mehr und wackeligeres Smartphonematerial an. Es wird unter der Herrschaft der Taliban nicht leichter werden, Informationen aus dem Land zu bekommen, sondern eventuell Todesgefahr bedeuten, Informationen weiterzugeben.

Auf den Bildern sieht man wenige Frauen – die Video- und Fotoaufnahmen, die durch die Nachrichten flimmern, zeigen größtenteils junge Männer. Es sind die Frauen, die am meisten zu befürchten haben. Doch sie bleiben die Schwächsten – schaffen es eventuell nicht mehr allein auf die Straße, geschweige denn zum Flughafen. Ihr Schicksal, das am meisten gefährdet ist, bleibt am wenigsten sichtbar.

Das Bild mit Flugzeug und Menschen steht in Afghanistan nicht mehr für Neugier, Abenteuerlust und Globalisierung. Sondern für Flucht, und für Angst: Angst, die so groß ist, dass man Verletzungen, den Tod in Kauf nimmt. Dass man nächtelang am Flughafen campiert, drängelt, rennt, seine Kinder über Zäune hebt, auf Flugzeugräder klettert, obwohl man weiß, dass man das Instrument zur Rettung damit lahmlegt.

Das mit verzweifelten Menschen behängte Flugzeug in Kabul ist so weit weg vom Mallorca-Urlaubsbomber, wie es die beiden Welten sind: Hier macht man sich Sorgen darüber, welcher Balearenteil zum Risikogebiet erklärt wird, weil dann die Woche Urlaub verschoben werden muss oder Quarantäne droht. Dort sorgt man sich um sein Leben.

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