Einmal die Welt mit fremden Augen sehen: Tipps aus der Redaktion
Empfehlungen Einmal alle Hürden überwinden oder sich in die Vergangenheit katapultieren lassen und an der entscheidenden Stellschraube drehen, damit die Gegenwart rosig wird: Wir haben Songs, Filme, Serien und Bücher für diesen Trip ausgegraben
Vor beinahe zwei Jahrzehnten, als Frontex für viele noch so klang, als handele es sich um eine neue Zahnpasta für strahlend weiße Schneidezähne, da schrieb die Hamburger Band Die Goldenen Zitronen einen Song über die Festung Europa. „Für eine Fahrt ans Mittelmeer, geb ich meine letzten Mittel her“, heißt es eingangs, und dass es Schorsch Kamerun dabei nicht um deutsche Traumschifffantasien geht, stellt schon der gnadenlos straighte Beat klar. Was in Europa erwünscht ist und wer nicht, darauf kann man viele Worte verwenden, die Goldenen Zitronen brachten die bittere Realität auf den einfachen, brutalen Satz: „Über euer scheiß Mittelmeer käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär.“
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;r.“2015 veröffentlichte die Band den Song noch einmal auf Englisch, If I Were a Sneaker hieß er jetzt und erschien auf ihrem Album Flogging a Dead Frog, das im Titel die englische Redewendung vom toten Pferd variierte, auf das man sinnlos weiter einpeitscht. Eine Idee zu Tode reiten, würde man im Deutschen sagen, aber der Song war natürlich aktueller denn je, und daran hat sich bis heute wenig geändert. Christine KäppelerPlaceholder image-1Die Sünden der ElternMinden ist ein Ort, an dem es immer regnet, die Wälder stehen still und hoch. Kinder verschwinden auf rätselhafte Weise. Ulrich hat mit seiner Ururgroßmutter geschlafen, Charlottes Tochter ist gleichzeitig ihre Mutter. Dark hat seit der ersten Staffel 2017 die Welt erobert, es geht in der Netflix-Serie um mehr als nur eine Zeitreise. Im Grunde stecken alle in einer Zeitschleife fest, ohne Anfang und Ende. Können Jonas und Martha, zwei junge Erwachsene, die Fehler ihrer Eltern wiedergutmachen? Oder begehen sie die gleichen Sünden, steuern der Katastrophe entgegen, der Explosion eines Atomkraftwerks? Der vernarbte Adam (der auch Jonas ist) möchte hingegen, dass die Apokalypse ausgelöst wird, denn durch die Zerstörung der Ursprungswelt soll die ewige Zeitschleife außer Kraft gesetzt werden. Jeder will irgendwas retten in dieser Serie, die Welt oder zumindest die eigene Familie, die vor Jahrzehnten bei einem Unfall starb. Der junge Jonas irrt in einer gelben Regenjacke durch den Wald, findet die Höhle, in der sich die Pforte zur anderen Welt befindet: Sic Mundus Creatus Est. Im Jahr 2052 merkt Jonas, dass er nicht alle, sondern nur eine Welt retten kann, zu der er selbst nicht gehört. Dark ist stark, ohne Happy End. Maxi LeinkaufIn ihren StöckelschuhenEs heißt, niemand könne aus seiner Haut, aber Hollywood lässt sich durch kleinliche deutsche Redensarten nicht beeindrucken und hat eigens das „Body Swap“-Genre erfunden. In den Freaky-Friday-Filmen dürfen Mütter und Töchter die Stellen tauschen, in Big wacht ein Zwölfjähriger im Körper von Tom Hanks auf. Natürlich eignet sich das Genre auch hervorragend, um Geschlechterbilder zu parodieren. Wunderbar furchtlos passiert das in Switch (1991): Da wird ein 30-jähriger Werbe-Fuzzi von drei Exfreundinnen umgebracht; sie hassen ihn, weil er ein unverbesserliches „male chauvinist pig“ sei. Im Purgatorium erbettelt er sich eine letzte Chance. Er muss eine einzige Frau finden, die ihn liebt. Allerdings hat der Teufel eine erschwerende Bedingung ausgehandelt: Steve wacht als Amanda (Ellen Barkin) auf.Der erste Gag, wie er/sie beim morgendlichen Pinkeln in der eigenen Unterhose nicht mehr fündig wird, wirkt noch erwartbar. Aber wie fortan Barkin auf Stöckelschuhen schwankend durch den Film bugsiert, Halt suchend – und doch männlich-unbeirrt, mit lauter kleinen Gesten, die das Korsett, in das Frauen durch Kleider- und Benimm-Konventionen gedrängt werden, deutlich machen, ist einfach großartig, schreiend komisch und charmant zugleich. Barbara SchweizerhofPlaceholder image-2Monster raus, Autor reinDie Idee ist verlockend: Nur für eine kurze Weile einmal in der Welt einer anderen Geschichte zu verschwinden. Meggie, die elfjährige Protagonistin in Cornelia Funkes Tintenwelt-Reihe, ist so fasziniert von der fantastischen Welt des fiktiven Romans Tintenherz, nach dem der erste Band benannt ist, dass sie über nichts anderes nachdenken kann. Praktisch, wenn man die Fähigkeit besitzt, Worte durch Vorlesen wahr werden zu lassen. Damit hat Meggie bereits Monster und Feen aus dem Roman heraus- und den Autor der Geschichte, Fenoglio, hineingelesen.Zu Beginn des zweiten Bandes folgt sie ihm und erkennt, dass die fantastische Welt nicht nur wunderschön und voller Magie, sondern auch schrecklich grausam ist.Gemeinsam mit dem eitlen Fenoglio, der über die Entwicklung „seiner“ Welt überhaupt nicht glücklich ist, versucht sie mit ihrer Fähigkeit, die Erzählung wieder geradezurücken und so die Tintenwelt zu retten: Fenoglio schreibt den Figuren seines Romans neue Erzählungen und Meggie liest sie vor. Doch die Geschichte hat ein Eigenleben entwickelt und entzieht sich immer wieder den Plänen ihres Autors. Alina SahaSchweizer SowjetrepublikAngenommen, die Zivilisation würde sich rückabwickeln. Das ist, grob gesagt, die Idee von Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Der Protagonist ist ein Schweizer Offizier, aber die Schweiz ist kein Bankenparadies, sondern eine Sowjetrepublik – weil Lenin damals nicht in den Zug stieg, sondern die Revolution vor der Exilhaustür lostrat.Die Sowjetschweiz befindet sich auch im 21. Jahrhundert noch im Krieg mit dem faschistischen Norden, darunter Deutschland, und hat Ostafrika als Einflusszone für sich gewonnen – woher auch der Erzähler stammt.Durch diese nicht weiter ausgekleidete Welt bewegt er sich als Politkommissar auf der Suche nach einem Oberst Brazhinsky, den er verhaften soll – was man halt so macht, im real existierenden Sozialismus. Auf dem Weg ins Réduit, jene sagenumwobene Schweizer Bergfestung, begegnet er einem christlichen Zwerg, lernt etwas über „Rauchsprache“ und tritt auf eine Landmine – wobei der Zwerg wieder ins Spiel kommt. Der letzte Rest Zivilisation klappt am Ende zusammen wie ein Kartenhaus. Ein vollkommen beklopptes, größenwahnsinniges Buch, das sich mit seiner grotesken Schützengrabensprache liest wie eine Jünger-Parodie auf LSD – kurz: ein großartiger Roman. Leander F. Badura
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